Am 18. Oktober 1941, keine zwei Monate vor Kriegseintritt der Amerikaner, öffneten die Lichtspielhäuser der USA wie jeden Abend ihre Pforten. Ein neuer Film wurde gezeigt. Obwohl das Publikum hohe Erwartungen an den Tag legte, so konnte es doch nicht erahnen, dass Die Spur des Falken – im Originaltitel The Maltese Falcon – die Leinwände nicht nur erobern, sondern auch für Jahrzehnte prägen wird. Dieses Jubiläum zum Anlass nehmend, soll einmal die Geburtsstunde des Genres untersucht werden.
Der Beginn der schwarzen Serie
Es sind dramatische Töne, die Die Spur des Falken einleiten, aber keine außerordentlichen. Brisante Tuschs zu Beginn waren schon in den 1920ern ein fest etablierter Bestandteil des Stummfilms. Und doch ist das, was sich danach offenbart, anders. Gezeigt wird ein Büro, genauer gesagt die Privatdetektei von Sam Spade und seinem Partner Miles Archer.
Heruntergelassene Gardinen lassen nur spärlich die Sommerhitze San Franciscos hinein, kleine Lichtstreifen ziehen lange graue Schatten auf den Fußboden des Büros. Eng und schwül, fast erdrückend, fühlt sich die Atmosphäre an, in welcher Sam an seinem Schreibtisch weilt.
Nur sitzt nicht nur irgendein Privatdetektiv darin. Humphrey Bogart leiht der Figur für hundert Minuten sein Gesicht. Sam Spade wurde durch ihn in einer gänzlich anderen Version verkörpert; die eigentlich blonden Haare und das markant spitze Kinn aus dem Roman sind in Bogarts grober Kopfform nicht auszumachen.
Dennoch funktioniert der ikonische Darsteller in dieser Rolle. Bogart bringt das mit, was das Genre weiter mit ihm verknüpfen wird: Den Schneid und die Haltung eines pessimistischen und zwielichtigen Mannes mit gefechtsbereiten Floskeln, der bei Faust auf Faust immer verliert, daher seine Intelligenz einsetzen muss, um seinen Gegnern überlegen zu sein.
Mit diesen Fähigkeiten geht er, während das Licht der Straßenlaternen wenigstens etwas Orientierung bei Nacht zulässt, einem dubiosen Fall nach, dem eine wunderschöne Frau als Auslöser zugrunde liegt. Hier zeigt sich ein weiterer Figurentypus des Genres: die femme fatale, eine dämonisierte Frauenrolle in Film noirs. Sie, die femme fatale, wird als selbstbewusste Frau den Protagonisten der Handlung ins Unglück stürzen, ihn mit funkelnden Augen umgarnen, seine Gedanken vernebeln. Diese von der grazilen Mary Astor dargestellte femme fatale namens Brigid O´Shaughnessy ist nicht diejenige, die sie vorgibt, zu sein.
Als Sams Partner ermordet wird, steht Sam mit dem Rücken zur Wand. Er findet heraus, dass eine verlorengeglaubte, legendenumwobene Falkenstatue von unermesslichem Wert mit dem Mord seines Partners zu tun hat. Mehrere Verbrecher wollen die Statue in ihren Besitz bringen. Der Privatdetektiv muss die Parteien gegeneinander ausspielen und zugleich den Mordfall aufdecken. Er muss, denn für die Polizei ist er der Hauptverdächtige. Weil er im Vorfeld eine Affäre mit der Frau seines Partners einging. Ein schwieriges Unterfangen.
Regisseur John Huston gelang mit Die Spur des Falken erneut ein Werk, das lange nach seiner Erscheinung filmhistorische Bedeutung aufweist. Zwischen Versuchung und moralischen Idealen schwankend, zieht um Sam herum Gefahr auf. Gepaart mit schlagfertigem Sarkasmus kreierte Huston eine Stimmung, welche die Justiz als falsche Sicherheit entblößt, wo jeder Bekannte doch ein Fremder ist und Hilfe gar nicht erst erwartet werden kann.
Der Protagonist ist zum Scheitern verurteilt, sein Handeln zieht ihn immer weiter in den Abgrund. Ein Entkommen? Praktisch unmöglich. Zum Schluss wird Sams Moral zwar seine Unschuld beweisen, doch muss er dafür die Frau aufgeben, die er lieben lernte. Auch wenn sie ihn in den Abgrund stürzen ließ, sie war die Liebe seines Lebens.
Die Spur des Falken ist rückblickend betrachtet kein ‚einfacher‘ Film, er war ein Startschuss für eine der prägendsten Filmbewegungen in den USA. Durch Bogarts Präsenz und Hustons Regie entfachte sich fast zwanzig Jahre eine dominierende Bewegung von Kriminalfilmen. Schon ein Jahr später erblickten Filme wie Der gläserne Schlüssel oder Die Narbenhand mit ähnlicher Atmosphäre und visueller Stilistik das Licht der Welt.
Film noir – ein Produkt seiner Zeit
Da stellt sich schnell die Frage nach dem „warum“. Wieso genau jetzt, weshalb nicht schon früher oder gar später? Dafür gibt es gleich mehrere Gründe, dessen Hauptrolle der Zweite Weltkrieg und seine Vorzeit einnehmen. Denn die meisten Film noirs haben einen Roman als Vorlage, welcher während oder kurz nach der Weltwirtschaftskrise veröffentlicht wurde.
Pessimismus, manche mögen behaupten, Desillusionierung, lässt sich in den Kapiteln verorten. Eine positive Weltsicht ist den Romanen fern, stattdessen wohnt ihnen Ausweglosigkeit, gar Paranoia inne. Ihre Hauptfiguren sind Getriebene, die nur noch nicht wissen, dass sie schon vor Kapitelstart chancenlos verloren haben.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten fliehen Massen vor Unterdrückung und Antisemitismus. Nicht nur Wissenschaftler, auch Kunstschaffende aus Österreich und dem Deutschen Reich gehören dazu, allen voran namhafte Regisseure wie Billy Wilder, Fritz Lang oder die Schauspielstars Peter Lorre und Marlene Dietrich.
Statt in der berlinnahen Filmmetropole Babelsberg weiter Filmgeschichte unter dem Hakenkreuz zu schreiben, verändern die größten Freigeister ihrer Zeit das Medium der bewegten Bilder in Nordamerika. Sie fassen Fuß in Hollywood. Mit Paranoia und nahezu ausweglosen Situationen kennen sie sich aus. Ihre Verzweiflung und den aufgestauten Frust finden sie wahrscheinlich in jenen Zeilen der Detektivromane Dashiell Hammets oder Raymond Chandlers wieder.
Von der Weltwirtschaftskrise gebrandmarkte Kriminalgeschichten gepaart mit der Verfolgungsangst und Hilflosigkeit der Filmemacher ergeben ein Ventil für die Gefühlswelt der damaligen Zeit. So drückte Billy Wilder 1944 in Frau ohne Gewissen seinen pechschwarzen Stempel auf die Leinwand, Fritz Lang tat es ihm wenige Monate später gleich mit Gefährliche Begegnung.
Die Vorreiter des Film noirs
Schon die Anfangsjahre des Spielfilms zeigten eine dem Film noir ähnliche visuelle Aufmachung. Vor allem der deutsche expressionistische Film weist viele Parallelen auf. Schaut man Das Cabinet des Dr. Caligari, eröffnet sich bereits 1920 durch obskure Kameraperspektiven und asymmetrische Bühnenbilder ein ebensolches mulmiges Gefühl für die Personen und die Welt, in der sie sich aufhalten.
Dass jene Werke den Genies des Mediums unbekannt waren, ist praktisch auszuschließen. Im Laufe der Weimarer Republik zeigte sich die expressionistische Stimmung des Öfteren in den Kinosälen. Fritz Langs Untergrundepos Dr. Mabuse, der Spieler oder Karl Grunes Die Straße sind hier zu nennen. Gerade letzterer entwickelte 1923 eine solche Symbiose aus schummrigem Licht und boshaft wirkenden Schatten, dass er von einigen Filmhistorikern als direkter Vorgänger des Film noirs angesehen wird.
Die Großstadtvision Grunes suggeriert eine urbane Schattenwelt, aus der es für den Protagonisten kein Entkommen gibt. Natürlich bei Nacht. Ein vertrauter Aspekt in Die Spur des Falken. Durch das Auftreten Peter Lorres als einer der gewieften Antagonisten des Films werden die Parallelen zu den Filmen der Weimarer Republik noch deutlicher, wenn man so will, unübersehbar. Schließlich ist der Darsteller dank seiner Besetzung in Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder über Ländergrenzen hinweg bekannt gewesen.
Auch die gemalten asymmetrischen Bauten sind in der Schwarzen Serie wiederzuerkennen. Schräge Kamerawinkel und das „Low-Key-Lightning“ – das Drehen mit nur einer markanten Lichtquelle – erzeugen ähnlich finstere Stimmung. Verzerrte Wahrnehmung drückt sich aus, sowohl in den zur Hälfte mit Licht, zur anderen mit Schatten verzierten Gesichtszügen der Figuren als auch in den verschobenen Einstellungen, die so aussehen, als würde den Figuren gleich der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Trotz des seit den 30ern aufkommenden Farbfilms bleiben die meisten Film noirs dem Schwarzweiß treu. Kontraste bieten sich für die zwielichtige Stimmung und das Schattenspiel besser an als ostereifarbene, bunte Bildelemente.
Zwei Epochen
Über achtzehn bzw. zwanzig Jahre erstreckte sich die erste Phase des Film noirs, je nachdem, wer gefragt wird. Dominierten in den 40ern die Privatdetektive oder in Verbrechen verstrickte Kleinganoven, Boxer oder Versicherungsvertreter usw. die Leinwände, formte sich in den 50ern die McCarthy-Ära, die “Second Red Scare” und mit ihr die wiederholte Panik vor dem Kommunismus. Das hatte auch Auswirkungen auf die Serie pessimistischer Kriminalfilme. Somit unterscheiden sich die Inhalte der beiden Epochen voneinander, ohne ihre ästhetische Stilistik aufzugeben.
Dadurch sind vor allem die 40er und ersten Jahre der 50er noch für Hauptfiguren bekannt, denen ihre Vergangenheit zu schaffen macht. Fred MacMurrays Walter Neff ist schon zu Beginn von Frau ohne Gewissen vergiftet, hat nur noch wenige Minuten zu leben und erzählt die Geschehnisse einem Diktiergerät. Damit springt die Geschichte eigentlich ans Ende, um in den kommenden Minuten das zu zeigen, was die Misere beginnen ließ.
Ähnlich verhält es sich in Goldenes Gift mit Robert Mitchums Jeff Bailey, der untergetaucht ist. Nicht gut genug, wie es scheint, denn der ehemalige Privatdetektiv bekommt unerwünschten Besuch aus seinem früheren Leben. Egal wie weit man flieht, egal wie perfekt man sich zu verschleiern gedenkt, es reicht nicht – eine Kernaussage der pessimistischen Ansichtsweise der schwarzen Serie.
Erzählt werden Geschichten von relativ normalen Menschen, die sich in Unheil verwickeln und nicht mehr handlungsfähig sind oder deren Handlungen letztendlich doch sinnlos sind. Vertreter der Exekutive wie der von Humphrey Bogart portraitierte Polizist Martin Ferguson in Der Tiger von 1951 sind selten in einer Hauptrolle zu sehen. Klar politisch aufgeladen sind daher wenige Filme. Es geht nicht ums Ganze oder die Weltrettung, es geht nur darum, wie hoch die Fallhöhe für den Protagonisten und sein Umfeld noch ausfallen wird. Die Kriegsstimmung und die amerikanische Trance danach aufzufangen, die Gefühle der Gesellschaft zu spiegeln, war wichtiger als klare politische Botschaften.
Das änderte sich. Ab den 50ern wurde der Film noir vorübergehend zum Ventil antikommunistischer Ansichten. In Polizei greift ein gerät ein Kleinganove, natürlich unfreiwillig, in die Machenschaften kommunistischer Agenten und wird somit zur Zielscheibe der Polizei. Er entlarvt die wahren Antagonisten und entwirrt sich aus der misslichen Lage, um zwischen den Zeilen zu beweisen, ein wahrer Amerikaner zu sein und kein Kommunist.
Damalige Hürden
1958 ist für viele Filmhistoriker das Jahr, in dem mit Orson Welles’ Werk Im Zeichen des Bösen ein Schlussstrich unter den Film noir gezogen wird. Und das nicht grundlos, denn der Film selbst wirkt zuweilen wie ein Epilog auf die letzten Jahre. An der amerikanisch-mexikanischen Grenze wird auf Seiten der USA ein mexikanischer Geschäftsmann getötet. Daraufhin streiten sich die beiden nahtlos aneinander gebauten Grenzprovinzstädte, wer denn nun den Fall aufklären soll. Zwar wird eine antikommunistische Haltung nicht offen kommuniziert, jedoch schwingt sie bei diesem gewählten Setting in jeder Szene mit. Gerade durch klar rassistische Aussagen gegenüber mexikanischen Bürgern ist der Gedankensprung zwischen den Bemerkungen und der von der Sowjetunion unterstützten mexikanischen Regierung nicht weit.
Aber auch ein zweiter, deutlich aussagekräftigerer Grund ist verantwortlich für das Ende der klassischen Film-noir-Ära. Es sind die wegfallenden Beschränkungen. Wie die Sowjetunion oder die DDR bestimmte Aspekte in Filmproduktionen untersagten, taten dies auch die USA. Der Hollywood Production Code – auch Hays Code genannt – ist solch eine US-amerikanische Richtlinie. Gewaltdarstellung oder Kriminalität an sich konnte nur in „moralisch“ verantwortungsvoller Art und Weise gezeigt werden oder kurz: Wer Böses tut, soll auch bestraft werden. Zudem sollen sexuelle Inhalte und Gewalt per se indirekt ausgedrückt werden, sichtbar sind Techtelmechtel daher nicht. Wenn also eine Figur jemanden umbringt, bestiehlt etc., dann wird die Figur vermutlich bestraft oder gleich ausgeschaltet. Nur die moralisch Überlegenen überleben die Handlung auch in Freiheit.
Diese Richtlinien dominierten bis in die 50er hinein die amerikanischen Filmproduktionen, bröckelten dann aber zunehmend. Während in der nichtdemokratischen DDR beim 11. Plenum der SED der verstaatlichten Filmproduktion klar ein Riegel vor ungewünschte Themen vorgeschoben wurde, erwies sich dieses Unterfangen in einem demokratischen System als schwieriger. Anscheinend so schwierig, dass Alfred Hitchcocks Psycho schon 1960 dank der neuartigen Gewaltdarstellung und Nacktheit für Kontroversen sorgte.
Das Erbe – Neo Noir
Das Versagen des Hays Codes ist somit auch die Geburtsstunde von etwas Neuem. Wie so oft in der Filmlandschaft zu beobachten, werden Filmgenres immer dann noch vielversprechender, wenn sie ihre feste Etablierung auf dem Filmmarkt hinter sich haben. Seit den 1970ern treten verstärkt sogenannte Neo-Noir-Filme in Erscheinung. Wie dem Western gelang dem Film noir eine Transformation. Chinatown von Roman Polanski ist eine der frühen Speerspitzen der Genreneuinterpretation. Auf einmal in Farbe übt Polanski offene Kapitalismuskritik und das so gut, dass der Film selbst in der DDR aufgeführt wurde. Er verlagert das sonst metropolenabhängige Genre in die Wüste vor Los Angeles. Statt Schatten viel Sonne, doch die schwüle Stimmung aus Die Spur des Falken bleibt bestehen.
Kein Jahrzehnt später erzählt Ridley Scott mit Blade Runner eine weitere Detektivgeschichte, wenn auch in der Zukunft. Tech noir war geboren. Da der Hays Code ausgedient hat, kann freier mit den Grundzügen des Genres gespielt werden. Böse Figuren müssen nicht mehr krampfhaft bestraft werden, die Aussage eines Films darf ruhig noch fataler ausfallen als zuvor und die sexuelle Anziehung von Figuren, die wird auch zunehmend gezeigt.
Bis heute zieht sich das Wiederverwenden der von Die Spur des Falken zum ersten Mal gebündelten, essenziellen Eigenschaften durch. Edward Nortons 2019er Motherless Brooklyn ist ein ebensolcher Film, aber auch der diesjährige Reminiscence versuchte sich daran. Woran man Neo Noirs nun erkennt? Wahrscheinlich ist es wie bei Die Spur des Falken vor 80 Jahren. Man muss es schlicht fühlen – in der Stimmung und den zwielichtigen Charakteren.