Vier befreundete Lehrer entscheiden sich mitten in ihrer Midlife-Crisis für ein Experiment, ihr Leben mit einem konstanten Alkoholpegel wieder in die Bahnen zu lenken. Plötzlich mutieren die Langweiler zu extrovertierten Charismatikern, die sowohl in der Schule als auch im Privatleben zu eigentlich längst vergangenen Höhen auffahren. Die Prämisse von Der Rausch, die nahezu weltweit ihre Anwendung finden dürfte, möchte ich in diesem Text hinsichtlich ihres kulturellen Kontext beleuchten – denn hinter dem dänischen Drama steckt noch mehr als man denkt.

In Dänemark ist die Trinkkultur eine sehr eigene. Bestes Beispiel dafür ist der jüngste Halbfinal-Erfolg bei der Fußball-Europameisterschaft, der in der Hauptstadt exzessiv gefeiert wurde. In der Nacht wurde auf Bussen getanzt, auf nackten Bäuchen mit schäumenden Bechern in der Hand durch die Fußgängerzone gesegelt, öffentliche Plätze und Straßen wurden von Trinkenden regelrecht überrollt.

Deutlich regelmäßiger als nur alle Jahrzehnte mal bei einem sportlichen Großerfolg ist das jährliche “Julekofrost”-Fest, ein fester Bestandteil der dänischen Weihnachtszeit, das zeitlich auf den hiesigen 1. oder 2. Weihnachtsfeiertag fällt. Die Tradition des gemeinsamen Speisens mit Freundinnen, Kollegen oder der Familie ist zwar mit unserem Feiertag zu vergleichen, nicht jedoch die “absolute Anarchie überall”, wie Vinterberg den nationalen Zustand an diesem Tag selbst betitelt. In dem jährlichen Ritual werden die Einfamilienhäuser auf den Kopf gestellt, alle sozialen Barrieren niedergerissen und in jeglicher Hinsicht völlig ausgerastet.

Diese Eskalation steht jedoch in Kontrast zur sonstigen Lebensweise der Einwohner. Üblich ist in Dänemark nämlich ein sehr kontrolliertes und strukturiertes Leben, das andernorts wohl als einseitig oder langweilig beschrieben werden dürfte. Als völliger Gegensatz zu genau dieser Lebensart stehen dann die benannten Feiernächte, in denen – so Filmregisseur Thomas Vinterberg – die Dän*innen “ihre Kontrolle abgeben”. Dieser Ausbruch habe für die Nation eine befreiende Symbolik inne.

Wenn die Dän*innen trinken, dann geschieht ihr Feiern also in völliger Enthemmung ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn sie trinken, trinken sie so richtig. Dieser Exzess hat im dortigen Wortschatz sogar einen eigenen etablierten Begriff. “Druk” hat zwar keine direkte Übersetzung ins Deutsche, kann aber als “heftig trinken” oder “Komasaufen” verstanden werden. In der Nacht des Fußballspiels und am Julekofrost-Fest gab und gibt es dieses “Druk” – genau das ist auch der dänische Originaltitel von Thomas Vinterbergs Der Rausch.

In seinem Film porträtiert er diese besondere Beziehung der Dänen zur der Volksdroge. Er war zunächst jedoch nicht daran interessiert, einen Abgesang auf dieses nationale Phänomen zu inszenieren, sondern wollte zunächst nicht viel mehr als ebenjenes zu huldigen und die positiven Nebeneffekte der Trinkkultur in den Fokus rücken. Die erste Hälfte des Dramas zeichnet deshalb diejenigen Merkmale am “Komasaufen”, die viele Dän*innen so zu schätzen scheinen.

Martin, der Protagonist, gespielt von Mads Mikkelsen, ist in seiner geordneten und kontrollierten Welt gefangen. Er steht still, folgt nur dem Muster seines etablierten Beamten-Lebens – ein Verhalten, das sich auf Beziehung, Beruf und persönliches Glück gleichermaßen negativ auswirkt. Die Flasche an die Lippen zu setzen ändert das. Denn wie bei dem dänischen Trinkphänomen gibt er nun die Kontrolle ab, er lässt sich fallen. Die Folge: Martin kann sich befreien, wird lockerer, neugieriger, mutiger und ambitionierter. Auch findet er in den ekstatischen Nächten mit seinen Freunden wieder Freude und Begeisterung, wenn er mit ihnen gemeinsam singend durch die verdunkelten Straßen torkelt. Die vier sind entflammt und stehen stellvertretend für den sorglosen Kult, der in Dänemark dem Alkohol zugute wird.

Doch Der Rausch ist mehr als nur eine Glorifizierung des “Komasaufens”. Aus meiner Sicht hatte Vinterberg kaum eine andere Wahl als auch die düsteren Seiten des Trinkens zu thematisieren. Denn “Druk” ist nichts, worauf man ausschließlich stolz sein sollte. Die Kausalität zwischen dem hohen Alkoholkonsum und der verhältnismäßig niedrigen Lebenserwartung zwar nicht klar zu beweisen. Klar ist aber, dass die Zahl der “stark trinkenden” Dän*innen im europäischen Vergleich unerreicht ist.

Gerne als “das betrunkenste Volk Europas” betitelt wird das insbesondere für die Jugend problematisch, so hat sich die Zahl der 15-jährigen Dänen zwischen 2014 und 2019 nahezu verdoppelt. Tatsächlich darf in dänischen Gymnasien in den dortigen Bars und Cafés problemlos getrunken werden, mit dem Vorwand, dass man das Trinken somit unter Kontrolle hätte. Da liegt das Wort der Heuchelei schnell auf der Zunge. In Dänemark werden die kritischen Stimmen jedoch immer lauter, die gesamte Nation würde sich blind gegenüber des wachsenden Alkohol-Problems des Landes verhalten.

Eine alleinige Fokussierung auf das Feiern des “Sorgenbrechers” hätte aus Der Rausch also nicht mehr als eine Provokation gemacht. Doch Vinterberg tappt nicht in diese Falle und verschließt sich nicht vor dem Widerspruch, den Alkohol mit sich bringt. Im Gegenteil: Der Widerspruch ist das, was die Droge gerade erst so interessant macht. Es beschwingt Menschen und verleiht bisweilen ein schwereloses Gefühl, kann sie aber gleichzeitig auch ins Abseits oder sogar in den Tod führen. Mit dem Konsum von Alkohol bewegt man sich also auf einem schmalen Grad, genau wie sich Vinterberg mit Der Rausch auf einem schmalen Grad bewegt.

Entsprechend stürzt auch die Freundesgruppe völlig ab. Während Martin, Nikolaj und Peter noch verhältnismäßig gut davon kommen, endet es für Tommy auf die schlechteste erdenkliche Weise. Damit zeigt der Regisseur auch die unheimliche Seite der bisweilen scheinheiligen Einstellung der Dän*innen gegenüber “Druk”.

Der Rausch ist also nicht nur ein simpler Kommentar auf Alkoholkonsum, er stellt gleichzeitig eine Parallele zu einem der wichtigsten Bestandteile der dänischen Kultur dar. Während der Regisseur sich nicht zu schade ist, die immer besorgniserregenderen Folgen dessen zu präsentieren, zeigt er gleichzeitig seinen Stolz darauf. Er verheimlicht diese glorifizierende Seite seines Films nicht. Deutlich wird das insbesondere an dem vor Lebensfreude nur so sprühenden Finale. Vinterberg nennt seinen Film selbst eine “Liebeserklärung für die dänische Art und Weise zu trinken”.

Der Rausch läuft aktuell in den deutschen Kinos