Wie langsam darf ein Film sein, um noch als Film zu gelten? Was genau macht einen Film aus? Ist es das Medium, ist es die Erzählung einer Geschichte oder ist es das Portrait von Charakteren? Ist es überhaupt eines dieser Dinge? Nach Vitalina Varela, einem Teil der “Fontainhas” Filme des anerkannten portugiesischen Regisseurs Pedro Costa, sind diese Fragen fast unausweichlich. Denn der Film ist eben nicht genau in einer der Kategorien unterzuordnen. Der Film ist alles, was einen Film ausmacht, gleichzeitig aber auch nicht. Ein Charakterportrait, eine Erzählung einer Geschichte, alle Eigenschaften des klassischen Filmes werden in Vitalina Varela genutzt, doch er fühlt sich nicht ganz wie ein Film an. Eher wie eine Fotoausstellung.

Denn anders als bei einem klassischen Film arbeitet Vitalina Varela nicht auf irgendein Ziel oder irgendeinen Endpunkt hin. Der Film hat keinen Spannungsbogen, ist keine Heldenreise und findet keinen wirklichen Schluss. Nicht jeder Film benötigt eine klassische Erzählung, nicht jeder Film baut sich in Akten auf, doch Vitalina Varela ist ein klares Extrembeispiel in die andere Richtung. Minutenlang passiert eben nichts. Gar nichts. Menschen stehen in einem Raum, schauen sich dabei nicht an. Dieses schwarze Loch an Inhalt muss nicht zwingend ein Problem sein, denn viele Charakterstudien bedienen sich am “Nichtstun”, doch mit dem Unterschied, dass man dort einen Einblick in den Kopf der Protagonisten gewährt bekommt. Vitalina Varela scheitert genau daran.

Denn wenn mehrere Personen in einem Raum herumstehen und nichts tun, bleibt der Zuschauer auf Distanz. Man weiß nicht ansatzweise, was in den Köpfen der auf dem Bildschirm gezeigten Menschen vor sich geht, meistens kennt man nicht einmal den Kontext der Situation. Dennoch soll man irgendwie mitfühlen, gar etwas fühlen. Doch dies gelingt nicht. Denn wenn die Charaktere auf Distanz bleiben, dann bleibt es der Zuschauer auch.

Wenn man über die Distanz zwischen Zuschauer und Charakter in einem langsamen, minimalistischen Film spricht, scheint ein Vergleich mit einem anderen, besseren Vertreter dieser Filmart von Nöten. Der Geschmack der Kirsche arbeitet mit vielen ähnlichen Mitteln. Lange Kameraeinstellungen ohne Bewegung, distanzierte Charaktere, Tod und Leben als Thema – was genau unterscheidet die beiden Filme? Nun, es ist simpler als man sich es vorstellen würde. Denn eine Sache machen die beiden Filme entscheidend anders.

In Der Geschmack der Kirsche dienen die Charaktere als Schablonen für Gedanken, die der Zuschauer sich machen kann. In Vitalina Varela dienen die Charaktere als Charaktere, mit denen der Zuschauer sich irgendwie zurechtfinden muss. Das heißt nicht, dass sie unsympathisch sind. Das heißt einfach, dass der Film von seinem Zuschauer erwartet, mitzufühlen, gleichzeitig aber keine Anhaltspunkte gibt, warum man mitfühlen sollte. Der Film schafft es zwar, seinen Spielort, die Slums Lissabons, gut einzuführen indem er fast ausschließlich bei Nacht spielt, sodass seine Aspect Ratio fast immer mit dem Bild verschwimmt, da die Ränder der Bilder eben auch ins Schwarze übergehen, um so die Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit sehr schön auszuspielen, doch vergisst dabei, dass es nicht nur auf das Setting ankommt und dieses nicht ausreicht um Emotionen zu erzeugen. 

Genau das macht Der Geschmack der Kirsche eben anders. Das Setting ist auch trist und öde, der Protagonist sucht einen weg raus, in seinem Fall durch den Tod, doch der Film bleibt nicht in sich verschlossen. Er öffnet sich und ermöglicht dem Zuschauer dadurch, sich in das Geschehen hineinzuversetzen. Vitalina Varela bleibt verschlossen, öffnet sich nicht und verpasst genau dadurch die Chance, den Zuschauer emotional mitzunehmen. Diese emotionale Abgeklärtheit wird dem Film zum größten Verhängnis. Meine Nerven waren ab einem gewissen Zeitpunkt ausgewrungen von der nicht zu enden scheinenden Nacht. Von der nicht zu enden scheinenden Stille der Erzählweise, die es nicht schafft, geniale Bilder interessant zu machen und von Charakteren, die leider verschenkt wurden. Soviel Potential sah ich anfangs in diesem außergewöhnlichem Portrait, so wenig Berührungspunkte mit dem Potential durfte ich erleben. 

Doch gerade bei einem Erlebnis wie Vitalina Varela es ist, ist die Wahrnehmung des Geschehens sehr subjektiv. Wie man sieht haben viele Personen etwas aus dem Film mitgenommen, haben sich auf einen emotionale Reise begeben und reflektiert. Das freut mich immens, da genau das bei meinem Erlebnis leider fehlte. So abweisend ich den Film empfand, das heißt nicht, dass es anderen genauso gehen muss. Daher rückblickend auf die Fragen, die ich mir anfangs stellte: Wie langsam darf ein Film sein, um noch als Film zu gelten? So langsam wie es nötig ist. Wenn man als Filmemacher eine Vision hat und die Mittel hat diese Vision umsetzen zu können sollte man dies tun. Egal wie fordernd das Endergebnis für die eigenen Sehgewohnheiten dann seien mag. Was genau macht einen Film aus? Er zeigt Bilder. Vitalina Varela hat gezeigt, dass es, wenn man über das Medium “Film” spricht, nicht darum geht, den Zuschauer emotional mitzunehmen, Anfangs- und Endpunkte zu besitzen oder empathische Charaktere zu kreieren. Es geht schlicht einfach darum, seine Sicht auf die Welt irgendwie einzufangen. Denn egal wie sehr die fertige Filmrolle bei anderen Menschen Anklang findet, Film ist Film. Und Film ist und wird auch immer faszinierend sein.

Alleine für diese Gedankengänge bin ich Vitalina Varela dankbar. Der Film brach meine Aufmerksamkeitsfähigkeit mehrmals, wies mich ab und lies mich alleine zurück. Trotzdem bin ich froh, ihn erlebt haben zu dürfen. Denn obwohl Vitalina Varela ein Film ist, ist er eines noch mehr: ein einzigartiges und bis zum Schluss forderndes Erlebnis.