Man sollte eigentlich nicht allzu viel auf Rankings und Ratings geben, aber ein Blick auf die Zahlen kann auch nützlich sein. Mit einem Letterboxd-Rating von 3.45 bleibt Tenet weit hinter Nolans größten Werken wie The Dark Knight (4.42), Inception (4.18) oder Interstellar (4.13) zurück, auf IMDb verpasste er im Gegensatz zu fast allen anderen Filmen des Regisseurs den Sprung in die Top 250. Bereits Nolans vorheriger Film Dunkirk aus dem Jahr 2017 zeigte mit einem Letterboxd-Wert von 3.84 und einem ebenfalls verpassten Einzug in die Top 250 von IMDb Zeichen eines leichten Abwärtstrends. Die Kritik an Christopher Nolans Filmen wird zudem immer lauter, von überbordendem Gigantismus, verlorener Bodenständigkeit, fehlender Charaktertiefe und verhängnisvollen Schwächen wird geredet, und das mindestens seit The Dark Knight Rises 2012 auf enttäuschende Kritiken stieß. Auch die letzten Filme von Christopher Nolan sind indes sicher nicht wirklich schlecht aufgenommen worden, aber es stellt sich die Frage: Werden Nolans Filme tatsächlich schlechter?

Die Durchschnittwertungsverteilung von Nolans Filmen

Nachdem Christopher Nolan in den ’00er-Jahren mit den Mystery-Thrillern Memento und Prestige: Meister der Magie sowie den beiden gefeierten Batman-Filmen Batman Begins und insbesondere The Dark Knight großflächige Anerkennung sowie eine feste Fanbasis gewinnen konnte, erschuf er einen Film, der für seine nächste Film-Dekade stilprägend sein sollte: 2010 erschien Inception und beeinflusste das moderne Kino wie nur wenige andere Filme. Mit bombastischem Spektakel und einem innovativen Konzept stellt dieser Film bis heute einen der intelligentesten und besten Blockbuster des 21. Jahrhunderts dar. Um Nolans Entwicklung in den kommenden Jahren zu verstehen, muss man nun einen genaueren Blick auf Inception werfen.

Mit dem Begriff der Komplexität wird häufig hantiert, doch selten hat er so gut gepasst wie bei Inception. In erster Linie findet man hier einen gigantisch inszenierten Heist-Movie: Der letzte Job, eine zusammengestellte Crew, ein aufwändiger Plan mit vielen Wendungen, alle Komponenten sind vorhanden. Gepaart mit einem grandiosen Score von Hans Zimmer sowie beeindruckenden Bildern und einem Star-Cast kann man die Handlung als leicht fordernde und kompliziert konzipierte, aber oberflächliche Erzählung genießen. Auf einer zweiten Ebene geht es um die individuelle Geschichte eines Charakters, der von den Dämonen der Vergangenheit und den Dilemmata der Gegenwart gejagt wird. Der emotionale Konflikt von Dom Cobb, stark gespielt von Leonardo DiCaprio, verleiht der Geschichte ihren Kern und damit einen möglichen Zugang für den Zuschauer. Auf der dritten Ebene leitet Inception aus der Figur die Themen ab, um welche der Film sich dreht. Es geht hierbei nicht nur banal um das Träumen selbst, sondern um Realitätsverlust, Gedanken, Verlust und Ambiguität. Zudem versieht Nolan alles mit einer allegorischen Note, sodass das titelgebende Verbrechen gleichermaßen den Prozess des Filmemachens widerspiegelt. Inception versieht also den emotionalen und Charakter-getriebenen Aspekt seiner Frühwerke mit großem Spektakel und erschafft Komplexität durch mehrere erzählerische Ebenen.

Einen sehr ähnlichen Ansatz wählte Nolan auch bei Interstellar aus dem Jahr 2014, welcher die Geschichte eines Mannes erzählt, der zwischen seiner Passion als Pionier und seiner Liebe als Familienvater zerrissen ist. Gleichermaßen stattete er das Science-Fiction-Epos mit atemberaubenden Aufnahmen und erschlagendem Spektakel aus, und erzählte schließlich von Todesangst, Endzeit, Rettung und der Kraft der Liebe. Spätestens nun wurde Nolan ein Ungleichgewicht zwischen der bombastischen Größe und der Ausgereiftheit seiner Figuren vorgeworfen, da Interstellar trotz des emotionalen Kerns eher an der Idee der Relativität interessiert war als an vielen der Charakteren. Mich persönlich hat der Film dennoch emotional voll erwischt.

Zu einem wahren Wendepunkt wurde nun Dunkirk aus dem Jahr 2017, der die historischen Geschehnisse von Dünkirchen ohne wirkliche Ankerpunkte wie ein großes Schachspiel nachvollzieht. Die Figuren haben kaum Motivationen oder Eigenschaften, doch dies ist der Punkt des außergewöhnlichen Kriegsfilmes, die komplexe Darstellung des Themas erfolgt durch die Art und Weise des Erzählens, hier die parallele Zeitkomprimierung von verschiedenen Handlungssträngen, als durch die Erzählung selbst. Dies ist nicht der konventionelle Weg, eine solche Geschichte anzugehen: Im Normalfall wird dem Zuschauer eine klare und ausgereifte Bezugsperson gegeben, an die man sich klammern kann. In Dunkirk jedoch geht es gerade um die Verlorenheit im Krieg und den Verlust des Zeitgefühls in der beklemmenden Lage der Soldaten. Wichtig ist der Wechsel Nolans, nicht im Anspruch oder der Qualität, sondern im Ansatz des Filmemachens. Dunkirk ist in erster Linie ein Konzept-Film, und das bringt uns endlich zu Tenet.

Tenet wird oft mit Inception verglichen, und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Beide Filme teilen sich das audiovisuelle Spektakel, den brachialen und klugen Score, die schwer zu verstehenden Handlungsideen sowie den Anspruch des teuren, groß angelegten Blockbusters. Doch in ihrem Ansatz sind sie grundverschieden. Anders als bei der oben beschriebenen Herangehensweise von Inception ist Tenet gar nicht an der persönlichen Geschichte eines Charakters interessiert, sondern am eigenen Konzept. Sinnbildlich dafür steht der namenlose Protagonist, der seine Rolle als Hauptfigur erst lernen muss. Er ist ein Spielstein, der seine eigene Position verstehet, und keine ausgereifte Figur mit emotionalen Konflikten. Natürlich besitzen auch die Rollen aus Tenet grundlegende Charakteristika und Beweggründe, um zu funktionieren, doch liegt das Augenmerk auf dem Konzept selbst und nicht auf den Menschen, die durch die Wirren der Zeit umherrennen. Im Stile eines James Bond hat der Protagonist trockenen Humor zu bieten, ihn und Neil verbindet eine Freundschaft und Kat verzweifelt an ihrer gefangenen Lage in den Händen Sators, doch sind diese Dinge eher Mittel zum Zweck als der Zweck selbst. Nolan weist den Figuren ihre Rollen im großen Ganzen zu und versucht sich an einem monumental angelegten sowie hochinteressantem Konzept, welches schließlich zu den Themen des Films führt. Zu unserer Beziehung zur Zukunft, zur Umwälzung des linearen Denkens oder unserem Selbstverständnis in der Welt um uns herum. Dem Film fehlende Charaktertiefe oder Emotionalität vorzuwerfen, verkennt daher den Weg, den Nolan von seinen balancierten Blockbustern aus genommen hat: Er hat die Balance nicht verloren, sondern die Waage über Bord geworfen.

Sind Nolans Filme also schlechter geworden? Ich denke nicht. Vielmehr sind sie anders geworden, sie zeigen auf, dass Nolan als ambitionierter Pionier nicht auf einem Punkt stehen bleibt, sondern immer weiter voranschreitet und die Grenzen des Kinos auslotet. Diesen Weg muss man mitgehen wollen, dann kann man bei „Tenet“ auch nicht nur das Spektakel genießen.