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Pearl lebt 1918 auf einem Familienbauernhof auf dem Land. Die junge Frau fühlt sich gefangen und isoliert, da sie sich dort um ihren komatösen und kranken Vater kümmern und gleichzeitig eine herrische Mutter ertragen muss. Pearl träumt von einem glamourösen Leben wie in den Filmen, die sie sich ansieht. Eine Reihe von Ereignissen führt dazu, dass sie langsam zusammenbricht, woraufhin sich die Frage stellt, ob sie jemals zu ihrem früheren Leben zurückkehren kann.
© TMDB
Regie: Ti West
Drehbuch: Ti West, Mia Goth
Schnitt: Ti West
Kamera: Eliot Rockett
Schauspieler*innen: Mia Goth, David Corenswet, Tandi Wright
Produktionsjahr: 2022
Land: USA
Sprache: Englisch
Länge: 1h42min
Genre: Horror, Drama

Pearl (Mia Goth) macht sich die Welt, wie sie ihr gefällt – zumindest träumt sie davon, eines Tages das ätzende Landwirtschaftsdasein hinter sich zu lassen. In ihren Augen ist sie zu höherem bestimmt, als niedere Stall- und Hofarbeiten sowie die Pflege ihres kranken Vaters zu leisten. Fuß fassen möchte sie in der Tanzindustrie, auf Tourneen fahren und von allen respektiert und geliebt werden.

Als in der Stadt in ihrer Nähe ein Vortanzen stattfindet, kann es nur Schicksal sein: Sie gewinnt den Part und entkommt ihrer Hölle. Dass sie eventuell gar nicht diejenige ist, die die Juroren suchen, kommt ihr dabei nicht in den Sinn. Wie besessen bereit sie alles für ihre große Chance vor und kein Preis ist ihr zu teuer.

Gestohlene Jugend

Ti West inszeniert mit Pearl die Reise zu den Ursprüngen einer Antagonistin und wie sie erst zu ebenjener transformierte. Zu lang ist die Hauptfigur Kompromisse eingegangen, unter denen ihr eigener Profit gelitten hat. Seien es die dominante und herrische Mutter, der bedürftige Vater, der abwesende Gatte oder sogar die hungrigen Tiere auf dem Grundstück: immer zieht Pearl den kürzeren. Immer und immer wieder rücken ihre Bedürfnisse in den Hintergrund, während alle um sie herum das bekommen, was sie wollen. Eines Tages fasst sie den Mut, den Gedanken in Worte umzuformulieren und ihre Mutter damit zu konfrontieren: Wann bin ich endlich an der Reihe?

Zwar hat sie von vornherein kein bedeutendes Verständnis von der konservativen Mutter erwartet, doch als sie antwortet, dass das Leben nie so verläuft, wie man es sich vorstellt, ist es ein schmerzhafter Weckruf. Man solle sich darauf vorbereiten, niemals genau das zu kriegen, was man sich wünscht, um glücklich zu sein. Ausgelöst wird eine Panikreaktion, die den kompletten Aufbau innerhalb der Storyline rechtfertigt, denn eher stürbe die Träumerin exakt an der Stelle, wo sie steht, als alle Mühen zu rekapitulieren.

In einer Szene am Essenstisch sagt sie, man sei immerhin nur einmal jung und habe somit nur einmal die Gelegenheit, die Jugend auszukosten. Pflichten und Verantwortung kommt die Protagonistin in ihrer Interpretation lediglich aus Nettigkeit nach, nicht nur zu Ungunsten ihrer potenziell vielversprechenden Zukunft, sondern auch der Gegenwart. Jeder weitere Tag auf dem Bauernhof ist einer weniger, den Pearl für sich hat. Nach dem abermals bestimmenden Urteil der resoluten Hausherrin, der Platz ihrer Tochter sei bei ihr, folgt der Knall: Ein Stern verlässt seine Umlaufbahn und entfacht auf dem neuen Weg einen Meteoritenschauer.

Mein Märchen ist euer Albtraum

Trotz permanenter Schuldgefühle und Unsicherheit rebelliert die unfreiwillige Landwirtin und stürzt das Heim, welches ihr mehr wie ein Regime vorkommt. Sämtliche Emotionen, Ängste und Wünsche kollidieren zugleich und brechen die zurückgehaltene Mentalität des Bauernmädchens auf. Ihr psychologisches Profil ist es, was diesen Film von einem Drama in den waschechten Horror abdriften lässt. Eindringliche Einstellungen auf Mia Goths fokussiertes Gesicht genügen, um einen gefrieren und hinter die Fassade blicken zu lassen.

Dafür sprechen auch ihre Taten, wenn sie beispielsweise ein ungeschlüpftes Ei mit der bloßen Hand zerdrückt. In ihr schlummert etwas Böses, genährt vom stetigen Entsagen des eigenen Naturells. Zunehmend weicht das Mitleid des Publikums resistenter Abscheu für Pearl. Handwerklich wird diese Negativität durch die brillante Optik unterstützt. Satte Farben wirken desorientierend und dickflüssig, gar als zweckentfremde West den Effekt sämtlicher Eindrücke und ließe sie in invertierter Hässlichkeit aufblühen.

Surreal ist die Welt von Pearl; visuell wie auch erzählerisch. Nicht zufällig finden sich Referenzen auf die Geschichte des Klassikers Der Zauberer von Oz, da die Hauptcharakterin alles daran setzt, ihre eigene zu schreiben, spielen und dirigieren. In der Warteschlange beim Casting stürmt eine weinende Frau aus dem Haus, namentlich als Dorothy bezeichnet und somit identisch zur Protagonistin des eben genannten Kultfilms. Für die Protagonistin ist dies ein Selbstbewusstseinsschub, denn sie hat schon lange klargemacht: Dies ist ihr Märchen und ihr Märchen ist unser Albtraum.

Wahrscheinlich wäre es keiner Menschenseele aufgefallen, wenn Ti West auf ein Prequel zu den Geschehnissen von X verzichtet hätte und der Aufbau nimmt sich viel Zeit, doch sobald die Intentionen der Narrative deutlicher werden, sehnt man sich schon beim Abspann von Pearl nach mehr. Mia Goth brilliert in der komplexen Hauptrolle, während die Fantasien ihrer Figur zum Leben erwachen – in Form eines idyllischen und schönen Traumes, der audiovisuell wie auch inhaltlich zum Nachtmahr koloriert wird.

PEARL IST AKTUELL (STAND: 01. JULI 2024) AUF WOW VERFÜGBAR

8.0
Punkte