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Drehbuch: Carlo Mirabella-Davis
Schnitt: Joe Murphy
Kamera: Katelin Arizmendi
Schauspieler*innen: Haley Bennett, Austin Stowell, Elizabeth Marvel, David Rasche
Land: USA
Sprache: Englisch
Länge: 1h36min
Genre: Thriller, Drama
Eine junge Dame verspürt plötzlich das anormale Verlangen, sich verschiedenartige Gegenstände, welche für gewöhnlich nichts in einem menschlichen Körper verloren haben, oral einzuführen. Ein “erstaunliches” und “brillantes” Machwerk, wie diverse, beifällige Kritikerstimmen verlauten lassen, doch beruht Carlo Mirabella-Davis‘ Spielfilmdebüt lediglich auf einer Passion für bizarre und substanzlose Effekthascherei oder steckt tatsächlich mehr hinter dem provokanten Psycho-Thriller?
Der menschliche Geist ist ein Kuriosum und demgemäß erscheint es wohl kaum verwunderlich, wenn jener Geist auch von überaus kuriosen Krankheiten befallen sein kann. Krankheiten, welche bei einer beiläufigen Erwähnung lediglich verständnisloses Schmunzeln hervorrufen, bei genauerer Betrachtung jedoch herzerschütternde Leidensgeschichten erzählen können. So beispielsweise beim Cotard-Syndrom, bei dem der Leidende der festen Überzeugung ist, bereits verstorben zu sein. Oder beim Capgras-Syndrom, bei dem der Betroffene dem Irrglauben, seine Nächsten seien durch dubiose Doppelgänger ersetzt worden, verfallen ist. Oder bei dem in Swallow aufgegriffenen Pica-Syndrom, bei dem der Erkrankte diverse Gegenstände zu sich nimmt, welche definitiv nicht als Nahrungsmittel gelten.
Gewiss hätte sich Regisseur und Drehbuchautor Carlo Mirabella-Davis auch allein auf die drastische Zurschaustellung jenes Krankheitsbildes konzentrieren und den Zuschauer 90 Minuten lang mit einer Frau, welche stets gefährlichere Dinge zu sich nimmt, konfrontieren können. Allerdings sind jene Darstellungen nur Mittel zum Zweck. Viel eher konzentriert er sich auf die Darlegung und Aufarbeitung der inneren Leiden einer jungen Frau, welche das Gefühl hat, die Kontrolle über ihr Leben gänzlich verloren zu haben.
Einst war Hunter eine ganz gewöhnliche Verkäuferin; eine einfache Frau, welche aus sehr einfachen Verhältnissen stammt. Doch als sie eines schicksalhaften Tages auf Richie traf und mit ihm zusammenkam, nahm ihr Leben eine 180°-Wende. Plötzlich hatte sie alles: ein prachtvolles Haus, die wunderschönsten Kleider und natürlich viel Zeit um ihrer Leidenschaft für das Zeichnen nachzugehen. Allerdings schien es so, als würde sie einer entscheidenden Sache nach und nach beraubt: ihrer Mündigkeit. Jenes Vermögen zur Selbstbestimmung, welches sie mit dem Ausleben ihres Pica-Syndroms versucht partiell zurückzuerlangen.
Bereits zu Beginn wird dem Zuschauer deutlich gemacht, dass die scheinbar perfekte Welt, in welcher Hunter lebt, nur Fassade ist. Das Anwesen der Conrads strahlt zu jeder Zeit eine unbehagliche Kälte aus, was nicht zuletzt der stimmungsvollen Kameraarbeit von Katelin Arizmendi zu verdanken ist. Diese hat ihr Können bereits in dem insgesamt leider recht enttäuschenden, dafür aber wunderschön fotografierten Horror-Thriller Cam unter Beweis gestellt. Mit einer weitestgehend matten Farbgestaltung und der Verwendung zahlreicher (Halb-)Totalen wird diese Welt ihrer Wohligkeit komplett beraubt und Hunters trostloses Dasein auf höchst effiziente Weise illustriert. Einzig und allein die kleinen Gegenstände, welche Hunter im Laufe des Films zu sich nimmt, scheinen in einer Art hypnotischem Glanz zu erstrahlen.
Aber was wäre eine stimmungsvolle Atmosphäre ohne jene Figuren, die innerhalb dieser in Aktion treten? Im Zentrum steht selbstredend die von Haley Bennett (welche man tatsächlich für die ältere Schwester von Jennifer Lawrence halten könnte) porträtierte Hunter; ein Charakter, welcher für diesen psychoanalytisch angehauchten Thriller die perfekte Grundlage bietet. Hinter jedem einzelnen ihrer aufgesetzten Lächeln und jeder weiteren unaufrichtigen Beteuerung ihrer angeblichen Glückseligkeit vermag man Hunters klaffende, in tiefem Rot schimmernde Wunden zu erblicken. Eine durchaus facettenreiche Figur, deren Verkörperung Bennett in jeder Szene mit Bravour meistert.
Jedoch sollten, abseits dieser großartigen Leistung, die anderen Darsteller nicht unbeachtet übergangen werden. Sowohl Austin Stowell als auch Elizabeth Marvel und David Rasche, welche die Eltern des Vorzeigeunternehmers mimen, können auf ganzer Linie überzeugen. Gemeinsam bilden sie eine glaubwürdig konstruierte Familie, welche stets vorgibt, das Beste für Hunter zu wollen, in Wahrheit jedoch nur bemüht erscheint, das Beste für sich selbst zu erreichen.
Diese perfekte Scheinwelt, in welcher Hunter ihr Dasein fristet, muss, wenn es nach der Familie ihres Mannes geht, um jeden Preis aufrechterhalten werden. Und je mehr Hunter versucht, mit dem Schlucken von Gegenständen ein Stück weit die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen, desto mehr bemüht sich die Familie, sie ihrer verbliebenen Mündigkeit zu berauben. Ironischerweise ist es letztlich ausgerechnet der von der Familie beauftragte Pfleger Luay (Laith Nakli), welcher Hunters Weg in ein selbstbestimmtes Leben ebnet.
Bedauerlicherweise verliert der Film während dieser finalen Emanzipation sein bis dahin ruhiges Tempo und vermittelt Hunters Eintritt in ihr neues Leben auf sehr gehetzte Weise. Die Befreiung von der herrischen Familie ihres Mannes und die Auseinandersetzung mit einem alten Schatten der Vergangenheit werden vergleichsweise im Eiltempo abgehandelt. Gerade in diesen Momenten hätte sich der Film gerne etwas mehr Zeit nehmen dürfen. Aber dafür wird man als Zuschauer zumindest mit einer wunderbar metaphorischen Schlusseinstellung belohnt, welche die Geschichte zu einem zufriedenstellenden Ende bringt.
8.0 Punkte
Fazit
Swallow ist eine wunderschön fotografierte und weitestgehend ruhig erzählte Charakterstudie über eine junge, leidgeplagte Frau, welche nach ewigem Ertragen endlich den Weg in ein selbstbestimmtes Dasein findet. Das gesamte Ensemble weiß in diesem hochinteressanten Psycho-Thriller zu überzeugen und wir dürfen gewiss gespannt sein, welche Werke uns Carlo Mirabella-Davis in (hoffentlich) naher Zukunft noch servieren wird.