©Thunder Road
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Drehbuch: Michael Finch, Shay Hatten
Schnitt: Nathan Orloff
Kamera: Dan Laustsen
Schauspieler*innen: Keanu Reeves, Donnie Yen, Bill Skarsgård, Ian McShane, Laurence Fishburne
Land: USA
Sprache: Englisch
Länge: 170min
Genre: Action
Konfuzius sagte einst, es sei beschämender, seinen Freunden zu misstrauen, als von ihnen hintergangen zu werden. Von besagten Freunden scheint John Wick (Keanu Reeves) nicht mehr allzu viele zu haben, jedoch zieht sich dieser Kodex wie ein Lauffeuer durch seine Biographie. Mit Schmerzen weiß der Mann umzugehen, musste er doch einen metaphorischen Messerstich in den Rücken nach dem anderen erdulden und dennoch auf die Hilfe seiner verbliebenen Alliierten zählen. John Wick: Kapitel 4 führt die spannende Ausgangslage des dritten Teils fort und setzt einen Killer gegen den Rest der Welt — mit verheerenden Ausmaßen, die sogar für die Verhältnisse dieses Franchise alles in den Schatten stellen, was man für möglich gehalten hätte.
Die Möglichkeiten des Unmöglichen
Der Größenwahnsinn einer ursprünglich geerdeten Storyline erreicht in diesem vierten Teil seinen absoluten Höhepunkt. Nachdem die Geschichte um die titelgebende Figur in ihrer Quintessenz relativ simpel ist, gibt die kriminelle Welt einen starken Kontrast zu dieser Simpelheit. Es existieren Regeln, deren Verstoß Konsequenzen mit sich bringt. Komplex ist das Metier von Auftragsmördern und ihre Operationen unterhalb des Radars der Justiz. Man sieht in der gesamten Filmreihe bis auf eine einzige Ausnahme nicht eine exekutive Arbeitskraft, sämtliche Anliegen werden privat und dabei stets mit Kälte und Würde ausgetragen.
Inzwischen schaut sich dieses Universum wie ein lebensechter Comic, welcher mehr als nur einmal den Rahmen der Wirklichkeit sprengt. Mr. Wick fällt unsagbare Höhen und bricht sich keinen Knochen, rasiert sich durch unendliche Mengen von Gegnern und steckt Schlitzer und Schüsse ein, die jeden Normalgeistlichen zu Fall bringen würden. All dies geschieht in einer von Neonlichtern erhellten Welt, die in ihrem eigenen Prunk untergeht. In seiner vollkommenen Schönheit birgt der auf Blut und Tränen erbaute Olymp Grausamkeiten, die vor Surrealismus explodieren und einen stets mit der Faszination überhäufen, wie viele dunkle Geheimnisse selbiger Olymp noch beschützt.
Eher klein hält sich im Gegensatz zu der Welt die Attitüde des Protagonisten, welcher es vorzieht, seine Taten für sich sprechen zu lassen. John Wick hat sich über sein eskalatives Kampfverhalten und diese gruselige Entschlossenheit zu einem Sinnbild des Vigilanten etabliert. Wird der schweigsame Rächer im ersten Teil noch als eine unaufhaltsame Tötungsmaschine ohne Hemmschwellen vorgestellt, ist er jetzt bei der finalen Stufe seiner Entwicklung und damit exakt dem angelangt, was über ihn gesagt worden ist.
Mit jedem abgegebenen Schuss verwandelt sich der Hauptcharakter in etwas weniger Menschliches, spricht er doch nur knapp 380 Wörter während seines Kreuzzuges. Er sendet offiziell mehr Patronen als Worte und wird zu einem Mythos auf zwei Beinen, vor dem sich sogar die mächtigsten Vertreter des Business fürchten. So muss der in seiner Rolle geachtete Marquis de Gramont (Bill Skarsgård) auf schmutzige Mittel ausweichen, um John Wick im Namen seiner Auftraggeber zu beseitigen — immer und immer wieder vergebens, versteht sich.
In der Würze liegt die Kürze
Sein Versagen wird auf ein Szenario verteilt, das von seinem Hauptaugenmerk auf ein Weiteres Gebrauch macht und ein Actionfeuerwerk von der Leine lässt, welches seinesgleichen sucht. Eine vorimplementierte Skepsis über die brachiale Laufzeit wird bereits in der ersten Anhäufung von Schlägen, Tritten, Schwerthieben und Pistolenschüssen durch Begeisterung ersetzt und wächst mit jeder folgenden Konfrontation.
Chad Stahelskis Inszenierung gleicht abermals einem Zaubertrick, der einen an der Nase herumführt: Man weiß, was auf einen zukommt und trotzdem kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus. 169 Minuten beobachtet das Publikum mit – im Verhältnis der Reihe – wenig Dialog ein Sammelsurium der besten Set-Pieces im modernen Action-Genre und muss dies somit keine Sekunde zu lang.
Beispielsweise präsentiert der Film eine Plansequenz, in der die Kamera sich wie ein aus der Asche auferstehender Phoenix über das Setting erhebt und das Geschehen aus der Vogelperspektive dokumentiert. John Wick chargiert sich mit einer von Explosionsgeschossen befüllten Schrotflinte durch die Angreifer, setzt per Abzug einen nach dem anderen in Brand und befördert seine Kontrahenten durch Wände und Scheiben.
Wie eine von Bienen durchrannte Honigwabe brennt der Schauplatz lichterloh und intrudiert die auf der Leinwand herrschende Violenz mit morbider Eleganz. Darüber hinaus gibt es Schlagabtausche inmitten des Pariser Straßenverkehrs und Wrestlingmatches auf einer 220-stufigen Steintreppe, wobei menschliche Körper Teerstufen runter und teilweise sogar wieder hoch fallen. Variation wie auch Härtegrad sind keine Grenzen gesetzt und entfesseln in dieser Kombination eine Fiesta an Zerstörung, die die Sinne betäubt.
John Wick: Kapitel 4 manifestiert sich schon jetzt als das Spektakel des Jahres, dessen Konkurrenz es schwer haben dürfte, ihm das Wasser zu reichen. Rein als Actionfilm kann man das Genre kaum besser vermarkten, wenn Mündungsfeuer aufblitzt, auf gepanzerte Rüstungen knallt und ein Echo durch den kompletten Kinosaal schickt. Die Reise des stoischen Anzugträgers bekommt mit diesem Ableger ein gebührendes Fortissimo voller Gewalt, während der rote Faden um seinen Charakter als kontroversen Helden klar ersichtlich bleibt. Selbst wenn man es nicht glauben mag: Dieses Franchise versteht nicht nur etwas von guter, ins Mark einfahrender Action, sondern auch etwas von feinfühliger Symbolik, die einen Charakter und dessen Ungnade definiert. Sanft und poetisch, dabei aber unsagbar bitter und schmerzhaft.
JOHN WICK: KAPITEL 4 LÄUFT SEIT DEM 23. MÄRZ 2023 IM KINO
9.0 Punkte
Dorian
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Die Leidenschaft Filme jeder Art in sich hinein zu pressen, entbrannte bei mir erst während meines 16. Lebensjahres. Seit diesem Zeitraum meines Daseins gebe ich jeder Bewegtbildcollage beim kleinsten Interesse eine Chance, seien es als Pflichtprogramm geltende Klassiker oder unentdeckte Indie-Perlen.