Drehbuch: Steve McQueen, Abi Morgan
Schnitt: Joe Walker
Kamera: Sean Bobbitt
DarstellerInnen: Michael Fassbender, Carey Mulligan, James Badge Dale, Nicole Beharie
Sprache: Englisch
Länge: 1h42min
Genre: Drama
Manche Dramen lassen sich wie jedes andere wegschauen. Manche Dramen sind oberflächliche Effektehascherei. Manche Dramen sind manipulativ. Und manche Dramen missen einfach wahres Drama. Ein solches Drama ist Steve McQueens Shame nicht. Shame begnügt sich nicht mit repetitivem Storytelling, melodramatischen Aufdringlichkeiten oder überspitzten Emotionsgefilden und lässt sich erst recht nicht wie jedes andere Drama wegschauen. Nein, Shame ist etwas vollkommen anderes.
Brandons Alltag kommt den meisten Männern wie eine ferne Realität vor, während er von ihm gelangweilt scheint. Mehr als regelmäßig (obgleich dieser Begriff in dem Kontext wohl keiner richtigen Definition zugeordnet gehört) verführt er die ein oder andere attraktive Frau. Er ist charmant, gutaussehend und wohlhabend, hat einen festen Job, Freunde und Beziehungen und eine herrliche Wohnung. Brandon hat praktisch alles, was er sich wünschen kann. Und doch scheint irgendetwas nicht in die Spur zu passen. Zeitgleich zu Szenen, in denen Brandon lüstern und den Prozess leitend eine Frau dabei beobachtet, wie sie sich ihrer Kleider entledigt oder unter der Dusche onaniert, spielt eine langsame, melancholische Musik. Als müsse er einem leidtun bei dem, was er gerade macht.
Shame wirkt lange Zeit wie ein Mysteryfilm, da er nicht gänzlich zu erkennen gibt, worauf er nun eigentlich hinausmöchte. Man fragt sich mehrfach, was genau mit Brandon falsch sein soll, bis dann der leidvolle Weckruf kommt, dass mit ihm rein gar nichts falsch ist. Der Weg bis hin zu diesem schmerzhaften Resultat ist ein steiniger und mal mehr, mal weniger unterschwellig tragischer. Dies liegt größtenteils an McQueens feinfühliger, individueller Inszenierung und der in sich gekehrten Erzählweise. Die sterilen Kulissen und matte Optik vermitteln eine merkwürdige Stimmung. Die Kamera verweilt gerne minutenlang in derselben Einstellung oder fährt ellenlange Strecken hinter dem Geschehen her. Dadurch erzeugt der Film ein starkes Gefühl von Intimität – und als wäre das bei der Thematik nicht schon gegeben. Es werden explizite Momente höchster Erotik gezeigt, denn auch zu einem gewissen Teil ist Shame ein Erotikfilm und versteckt sich nicht davor, beim Akt des Geschlechtsverkehrs auch mal die volle Prozedur draufzuhalten. Shame will, dass man hautnah dabei ist.
Denn er will, dass man den Protagonisten versteht und sich in seiner Welt wiederfindet. Brandon Sullivan zeigt ein krankhaftes Suchtverhalten. Doch wo bei einigen dieses Ventil von Alkohol, Schokolade oder sonstigen Mitteln gefüllt wird, ist Brandons Sucht sexueller Natur. Welchen Sinn und Zweck Brandons Taten verfolgen und inwiefern man bei seinem Verhaltensmuster mitfühlen soll, das ist besser selbst erlebt als nacherzählt. Brandon ist eine komplexere Figur, als sein Umfeld wahrnehmen würde. Und besagte Komplexität wird überragend von Michael Fassbender porträtiert. Seine facettenreiche Darstellung versetzt einen in so manchen Szenen wirklich in Schockstarre. Neben ihm spielt die restliche Besetzung ebenfalls überzeugend, von der Carey Mulligan in ihrer Performance nochmal extra hervorzuheben ist. Die Chemie von ihr und Fassbender und ihren Figuren spricht Bände und beinhaltet herzliche aber auch dramaturgisch intensive Charakterinteraktionen.
Dass die eigene Ruhe dem Film maßlos zugutekommt, trifft aber nicht vollends zu. Auch wenn Shame mit seinen trägen, detaillierten Eigenschaften besticht, gibt es Parts, die sich etwas schleppen und der kurzen Laufzeit von etwas über 100 Minuten ein bisschen entgegenwirken. Nichtsdestotrotz ist Shame in seiner Erscheinung einzigartig. Mit phänomenalem Schauspiel im Mittelpunkt weiß dieses psychologische Erotikdrama ein Banngefühl höchster Güte aufkommen zu lassen und, obwohl es sich um keinen aufregenden Thriller oder krachenden Actioner handelt, Spannung aufzubauen. Der sich selbst treue Stil des Filmes zeugt von einer großartigen Umsetzung. McQueen wusste genau, was er mit diesem Werk erreichen wollte und hat es bravourös gemeistert. Eine dreckige, mitreißende Realität eines Mannes, welcher der Vision seiner eigenen Schmach nicht entkommen kann. Was kann einem fehlen, wenn man doch alles hat?