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Der ebenso visionäre wie rätselhafte Wissenschaftler Steve Abnesti (Chris Hemsworth) führt ein modernes Gefängnis, in dem die Insassen durch die Teilnahme an verschiedenen Experimenten ihre Strafen verkürzen und gewisse Freiheiten genießen dürfen. Dabei werden sie einer Vielzahl neuartiger Drogen mit den unterschiedlichsten Wirkungsweisen ausgesetzt.
© TMDB
Regie: Joseph Kosinski
Drehbuch: Rhett Reese, Paul Wernick
Schnitt: Stephen Mirrione
Kamera: Claudio Miranda
Schauspieler*innen: Chris Hemsworth, Miles Teller, Jurnee Smollett
Produktionsjahr: 2022
Land: USA
Sprache: Englisch
Länge: 1h47min
Genre: Sci-Fi, Thriller

Der Ersteindruck sei entscheidend heißt es. Willst du eine Impression hinterlassen, musst du dafür arbeiten. Mit den Konventionen brechen, Regeln ausreizen, aus der Reihe tanzen. Man muss auftreten wie Steve Abnesti (Chris Hemsworth). Er lädt sein Testsubjekt in ein komfortables Zimmer ein, erkundigt sich nach dessen Wohlbefinden und holt sich kurzerhand seine Einwilligung dafür ein, die dem Publikum noch unbekannte Infusion zu starten. Keine halbe Minute später werden wir Zeuge unbeschreiblicher Szenen: Ein – wie es inzwischen zur Norm geworden zu sein scheint – smart durch sein Gegenüber hindurchblickender, adrett gekleideter Chris Hemsworth erzählt Flachwitze von derartiger Schlechtigkeit, dass es unmöglich sein müsste sie als Quelle komödiantischem Amüsements zu klassifizieren — und dennoch lacht unser Testsubjekt, kann den Tränen praktisch gar nicht mehr standhalten. Auch bei der auf die Sprüche folgenden Botschaft, er habe seine Strafe noch nicht abgesessen und zähle im Verständnis des Justizsystems nach wie vor als Krimineller, grölt er hemmungslos vor Belustigung.

Willkommen in „Spiderhead“, einer Forschungsinstitution auf einer einsamen Insel. Spiderhead wird von der Kooperation des amerikanischen Gefängnisstrafvollzugverfahrens und eines wissenschaftlichen Pharmazieunternehmens getragen. Um dem Aufenthalt in einer Haftanstalt zu entgehen, wird den Angeklagten die Möglichkeit eingeräumt, an einer medizinischen Studie teilzunehmen. Ihr Inhalt ist die Erprobung von neuartigen Seren, die biochemische Prozesse des menschlichen Körpers beeinflussen können und künftig strukturieren sollen. Pragmatischer Hintergrund des Unterfangens ist seitens der Wissenschaft die Optimierung des Alltags, dem Menschen bei der Überwindung von persönlichen Hürden zu helfen. Es wird ein evolutionärer Schritt gewagt, die Menschheit von Aufgaben zu entbinden, denen sie aus eigener Leistungsfähigkeit nicht gewachsen sein könnte. Attraktiv ist das Angebot allemal, doch hält das Angebot von Der Spinnenkopf mit der Nachfrage mit?

Vielversprechende Tests…

Wenn eines über den erfolgreichsten Streamingdienst der Welt bekannt ist, dann dass er sich selten für die Umsetzung einer Eigenkreation zu schade ist. Ungeachtet der absehbaren Qualität des Endproduktes werden hochkarätige Namen mit hübschen Summen gelockt, um sich dem Auftrag des nächsten Originals anzunehmen. Ins Auge springen will natürlich zuerst der Fall des Netflix-Originals, der abermals derselbe ist: Das Konzept von Der Spinnenkopf ist unheimlich und interessant. Spielraum für scharfsinnige Science-Fiction ist definitiv gegeben, welchen die Erzählung auch zu nutzen gedenkt. Ansätze innerhalb des Plots finden sich zuhauf und schlüssig vorgetragen sind die Verläufe der Untersuchungen und deren Wirkung bis zu einem gewissen Punkt allemal.

Besonders die Momente im ersten Quartal der Geschichte tragen eine abschreckende Anspannung in sich, solange man noch im Ungewissen stolpert, was für Stoffe in den harmlos aussehenden Ampullen schlummern. Pumpt man einen anständigen Mann mit der richtigen Flüssigkeit auf, verwandelt er sich in eine balzbereite Bestie und reißt im Vorgang des heftigen Annäherns glatt seine Partnerin samt Sitzgelegenheit um. Wird selbigem zurückhaltenden Mann eine andere Flüssigkeit verabreicht, ist die Substanz der Schlüssel zu seinen tiefsten Empfindungen, wird zum Wahrheitsserum.

Obwohl in Der Spinnenkopf langsam erzählt wird, fehlt es dem Film nie an Aufregung in der Auseinandersetzung mit seinem Konzept. Gerade dadurch kommt doch kurz die Hoffnung auf, dass die Umsetzung mit den Ideen mithalten kann und die Optionen potenzieller Stimulationssubstanzen kein Ende nehmen. In der Hinsicht funktioniert auch die eigeninitiierte Debatte am besten, wenn man ohne Beihilfe des Filmes mit der ethischen Hinterfragung des Szenarios beginnt. Kann – trotz guter Intentionen hinter den Versuchen – das Ergebnis seine Opfer wirklich wert sein? Muss der Mensch überhaupt “repariert” werden? Trägt die Entbindung von eigenen Empfindungen nicht vielmehr dazu bei, dass man sich von seinem Selbst distanziert?

Schließlich steuern nicht wir unsere Emotionen, unsere Emotionen steuern uns. Der Mensch wird seinen Gefühlen auf ewig unterlegen sein — dadurch wird ein Mensch erst menschlich. Worin der angeschnittene Konsens besticht, ist die Aussicht darauf, dass sich Der Spinnenkopf seinem philosophischen Konflikt auch auf spiritueller Ebene nähert, seinen eigenen metaphysikalischen Kosmos ausbaut. Eine der ältesten Rivalitäten der Diskussion lebt auf: Ist das, was gerade passiert, obgleich sämtlicher Für- und Gegenargumente, richtig oder falsch? Sich mit diesen Fragestellungen zu beschäftigen, bringt durch das Futter einen enormen Aufschwung, welches der Film anfangs liefert.

Auch die Oberfläche macht neben dem inhaltlichen Start eine gute Figur. Angenehm zurückhaltend übt sich Regisseur Joseph Kosinski in der Visualisierung seiner Prämisse und setzt ähnlich wie bei Oblivion auf sterile Räumlichkeiten und organische Landschaften. Das Werk wird sehr geerdet präsentiert. Auf abstruse Modernitäten und technologische Wunderwerke wird verzichtet. Kosinski hält den Rahmen überschaubar. Durch die schöne Kameraarbeit von Kosinskis Stammcinematographen Claudio Miranda und eine minimalistische Ausstattung erzeugt Der Spinnenkopf eine faszinierende Atmosphäre, in der man sich heimisch und exotisch zugleich fühlt. 

Unter der Darstellerriege lassen sich neben Chris Hemsworth und Top Gun: Maverick-Star Miles Teller Talente wie Jurnee Smollett, Tess Aubrich und sogar Nathan Jones finden, die ihre Parts mit zufriedenstellendem Engagement ausfüllen. Zentrum des Schauspiels bilden jedoch die zuerst genannten Darsteller, welche ihren Charakteren das nötige Charisma verleihen, um nicht unter die Räder zu geraten. Während Miles Teller seiner recht dramatisch geschriebenen Figur Sympathiepunkte im mysteriös-beengenden Setting garantieren kann, will Chris Hemsworths Performance zu jeder gegebenen Sekunde das Rampenlicht für sich beanspruchen. Seine Interpretation des unberechenbaren aber augenscheinlich zuvorkommenden Wissenschaftlers brodelt vor Intensität und erinnert in seiner kalkulierenden Unterkühltheit an ähnlich prägnante Leistungen seiner Karriere wie Tyler Rake: Extraction oder Blackhat.

…aber leere Ergebnisse

Somit stimmen die Grundeinstellungen der Apparatur und sind zur Abfahrt bereit. Das Problem hinter dieser Maschinerie ist nur, dass es zwar bestens aufgemotzt und vorbereitet ist, letztendlich aber trotz all seiner Raffinessen nur geradeaus fährt. Konzepte können sich auf ihre Tiefgründigkeit konkretisieren und dabei schlagfertige Aussagen tätigen, weil die Denkanstöße tatsächlich auf einem Fundament türmen. Wird ein Aufbau in der Geschichte und den Figuren betrieben, wird versendeten Impulsen auch ein Ziel gesetzt, welches sie erreichen können. Der Spinnenkopf kümmert sich hingegen mehr um den Affekt und weniger um die Wirkung.

In den Szenen der Wissenschaft dominiert nicht die gebrochene Moral der Situation, sondern lediglich die Auswirkung der Fläschchen als Spannungsgarant. Wie auch Steve in seiner Position des Observateurs wird das Publikum dazu gezwungen, einzig und allein den Bühnenzauber zu beurteilen. Dabei ist das Resultat hinter dem Vorhang doch viel interessanter. Hat die Dosis nachhaltige Auswirkungen auf das Individuum? Wie viel bleibt von einer Person übrig, wenn der Körper aus dritter Hand dazu verdammt wird, wie eine geölte Maschine zu funktionieren? Dort liegt das Hauptproblem von Der Spinnenkopf: Die Quintessenz wird sorgfältig konserviert, doch fließen darf sie nicht. Warum sollte man einem Film dieser Thematik Gehör schenken, der außer kurzatmigen Schockern nichts zu sagen hat und vielmehr den temporären Kick jagt? Es bleiben Effekte ohne Konsequenzen.

Aufgebauscht mit Sprüchen wie aus einem Glückskeks zapft der Film ebenjene Thesen an, welche in einer Story wie dieser vorprogrammiert sind. Dialoge über die fragwürdige Moral hinter den das Individuum unterjochenden Tests wirken unsicher und wahllos in den Diskurs geworfen, der ab und zu mal aufgegriffen wird. So sitzen Jeff und Steve in einer Kajüte zusammen und unterhalten sich wie gesittete, auf Augenhöhe agierende Zeitgenossen, obwohl sie in der dortigen Hierarchie nicht ferner voneinander platziert sein könnten. Jeff schöpft Verdacht und hinterfragt Steves Arbeitsprinzipien, während dieser sie weglacht und sich an dem geistreichen Fortschritt profiliert. Anstatt die Mentalitäten beider Figuren jedoch am Kragen zu packen, verläuft sich das Gespräch in expositorische Kompensation. Will Jeff Steve zuerst noch ins Gewissen reden, steht urplötzlich wieder die Wirkung der nächsten Designer-Droge im Vordergrund. Jeffs Hirngespinste verfliegen – doch wofür? Für diesen einen Moment der Nervosität, an den man sich in zwei Minuten schon nicht mehr erinnert.

Der Spinnenkopf stellt keine Fragen und gibt erst recht keine Antworten. Er entzieht sich seiner Verantwortung und missbraucht die Ausgangslage als stumpfes Unterhaltungsvehikel. Charakteren fehlt die Tiefe, als dass ihre Überzeugungen den angeforderten Transport erstattet bekommen. Wenn Steve Abnesti über das Schicksal empfindungsarmer Menschen lamentiert und sein einziger Bezug das frühe Verlassenwerden seines Vaters darstellt, bleibt er als Repräsentant des angesprochenen Punktes blass. Der Spinnenkopf möchte ein ganz klares Schwarz-Weiß-Denken auf die Charaktere vermeiden und sie differenziert porträtieren, um den Konflikt zu befeuern. Immerhin werden Diskussionen erst dann interessant, wenn man gestellte Fragen nicht direkt mit einem Gedankengang beantworten kann und die konkurrierenden Parteien einander ergänzen und ausspielen können. Es wird leider nicht weit genug gedacht. Kein Charakter kann seinem Wesen auf Dauer eine Bewandtnis zuteilen.

Täglich grüßt der Testlauf

Nicht einmal der erstrebte Nervenkitzel der Gefahr bleibt bestehen. Zu lachhaft wirken die Interaktionen unter dem Einfluss der Medikamente, welche zunehmend überspitzt veranschaulicht werden und in ungesunder Dosierung auftreten. Da kann der Cast noch so bemüht sein, den Ernst der Lage zu erhalten und sich die Seele aus dem Leib spielen: Der Stachel steckt tiefer. Auch die non-lineare Erzählstruktur wirkt dem Kontext entgegen, welche die Hintergrundgeschichte des Protagonisten Jeff mit den Geschehnissen in der Einrichtung vermischt. Der Film möchte in seiner Erzählung erreichen, dass die Zuschauerschaft von dem Werdegang der Hauptfigur ergriffen ist. Geschick in der Dramaturgie beweist das Werk aber nicht, wenn bereits der nächste Testlauf ansteht. Weder emotional noch spannungsmäßig gewinnt das Storytelling etwas dazu und gerät in beiderlei Hinsicht ins Stocken.

Am schlimmsten von all den gegenpolig agierenden Kräften ist immer noch die abwesende Motivation des Drehbuchs. Es verfehlt den Punkt maßgeblich und kann seinem eigenen Nebel nicht entrinnen. Gefühlswelten werden nicht erkundet, wie der Film es vorsieht. Resultierend aus der Selbstignoranz verkommt der enthusiastische Inhalt zur Effekthascherei und taucht nie bis zur Oberfläche auf. Der Spinnenkopf ist als zum Nachdenken anregen wollendes Werk so seelenlos, wie es nur werden kann. Aufgrund der handwerklichen Aspekte und den teilweise spannenden Ideen schafft Der Spinnenkopf gerade so den Sprung zur Mittelmäßigkeit. Hier wird nicht mit Konventionen gebrochen, keine Regel ausgereizt und nicht aus der Reihe getanzt.

Unter den Sci-Fi-Thrillern mit der Thematik menschlichen Verhaltens und seiner Natur kann Kosinskis Vision dem allseits spannenden Konflikt kaum bis gar nichts Greifbares entlocken. Tragisch, zu wie vielen Ablegern des Genres dieses Fazit schon gezogen werden musste. Um die Pointe zu verkürzen, würden die meisten an der Stelle von der typischen Fließbandproduktion sprechen, die jedes Jahr auf Netflix erscheint. Im Jahr 2022 nimmt Der Spinnenkopf diesen sagenumwobenen Platz ein.

DER SPINNENKOPF IST SEIT DEM 17. JUNI 2022 AUF NETFLIX VERFÜGBAR

5.0
Punkte