Das Kino scheint wieder da zu sein: James Bonds neustes Abenteuer No Time to Die ist nach zwei Wochen weltweit bei einem Einspielergebnis von knapp 300 Millionen Dollar; der hierzulande schon in den Startlöchern stehende Venom: Let there be Carnage scheitert zwar knapp am Oktober-Rekord für das größte Einspielergebnis am ersten Spielwochenende in den USA, kommt aber dennoch auf knapp 90 Millionen Dollar in den ersten drei Tagen.
Das sind zwar keine Werte aus der Zeit vor der Pandemie, dennoch sind sie sehr beachtlich für die aktuelle Situation. Nicht nur das Blockbusterkino hat sich teilweise erholt, auch Filmfestivals sind in nahezu voller Montur zurück. Neben Cannes im Sommer, sowie Venedig und Toronto in den letzten beiden Monaten zeigte das Filmfest Hamburg dieses Jahr mehr als 100 Filme in den Sälen der Hansestadt. Auch ich habe das Filmfest dieses Jahr besucht und dabei vier Filme auf mich wirken lassen. Diese möchte ich hier vorstellen.
Vortex
Vortex’ Handlung könnte kaum simpler sein: ein älteres Ehepaar lebt gemeinsam in einer Wohnung in Frankreich. Der Mann, Schriftsteller und Filmliebhaber mit seiner demenzerkrankten Frau. Es wird der Alltag des Paares gezeigt.
Was unspektakulär und eintönig klingt, beweist uns das Gegenteil. Denn der Film ist kein „gewöhnliches“ Drama, wie man es vielleicht vor Augen haben könnte, nein, die Geschichte von Vortex wird im Split-Screen erzählt. Heißt: Auf der einen Seite begleitet die Kamera die meiste Zeit über die Frau, auf der anderen den Mann. Überfordernd könnte man meinen, doch auch das ist es nicht. Zeitlich perfekt abgestimmt haben die Bilder immer eine Intention, wirken nie, als seien sie nur Lückenfüller. Durch diese ungewöhnliche Erzählweise wird der Film nie langweilig und erweckt zu keiner Zeit den Anschein, als hätte er sich auf einem Thema festgefahren. So komisch das auch klingt, der Split-Screen verstärkt gerade die emotionalen Momente. Es braucht eben nicht viel, um den Zuschauer zu bewegen. Das beweist Vortex auf ganzer Linie. Es reicht in diesem Fall schon aus, Dario Argento als Vater, Françoise Lebrun als Mutter und Alex Lutz als Sohn auf der Leinwand zu sehen und sich ihren Figuren anzunehmen. Emotional auslastend ist das allemal und daher auch nicht für jede/n geeignet. Ein Emotionsstrudel par Excellence – Gaspar Nóes neuster Film wird seinem Titel in jeden Fall gerecht: er ist ein Vortex von Gefühlen.
Liebe Genossen!
Andrei Konchalovsky ist ein Mann mit sehr viel Erfahrung in der Filmbranche. Der russische Filmemacher schrieb an den Drehbüchern zu Ivan’s Childhood und Andrei Rublev – beides Filme des berühmten russischen Regisseurs Andrei Tarkovsky – mit, ging nach Hollywood und kehrte nach Russland zurück. Im besagten Land und vor knapp 60 Jahren spielt sein neuer Film: Liebe Genossen!. Der Film erzählt die wahre Geschichte eines Arbeiteraufstandes im Jahr 1962 in einer Kleinstadt, welcher von der Regierung der damaligen Sowjetunion mit Gewalt gestoppt und anschließend vertuscht wurde.
Das ist kein leichtes Thema, hat einen größeren Scope als am Anfang vermutet und kann durch die bestechend klare Inszenierung der Bilder im 4:3 Format und in kontrastreichem Schwarzweiß seine volle Wirkung entfalten. Liebe Genossen! bewegt und emotionalisiert, schildert außerdem das doch recht große Ereignis clever durch das Schicksal einer Mutter und verliert so nie den Überblick. Leider ist der Film teilweise zu trocken, um die Emotionen über die gesamte Laufzeit zu tragen und schafft es daher nicht, eine/n über die gesamte Laufzeit an das Geschehen zu binden. Dennoch sind die 120 Minuten, die der Film mit dem Thema verbringt, sehr gut investierte Zeit, vor allem, weil er ein zumindest in Deutschland weitestgehend unbekanntes Ereignis beleuchtet.
Belfast
Ein autobiografischer Film von Kenneth Branagh; ein Period-Piece in Anlehnung an seine Kindheit in der nordirischen Stadt Belfast während des Nordirlandkonfliktes; ein Familiendrama in schwarzweißer Optik inklusive ungewöhnlichem Bildformat.
Liest man sich durch, worum es in Belfast geht, wie der Film gedreht ist und wer hinter der Kamera steht, so schreit alles nach Oscars, Golden Globes und weiteren Preisen. Der Film wirkt wie gemacht für die großen Galen Hollywoods, als wäre er auf die Nominierungen zugeschnitten. Ob das Branaghs Intention war oder ob er schlicht seine Kindheit in einer Liebeserklärung an Familienzusammenhalt und das Erwachsenwerden inszenieren wollte, bestückt mit Passagen über die Wirkung des Kinos, kann man nur spekulieren. Schlussendlich treffen beide Aussagen auf das Endprodukt Belfast zu. Trotz des im Zentrum stehenden Konfliktes ist der Film als keine schwere Kost initiiert, denn Belfast ist durchaus verspielt, amüsant und konzentriert sich zusätzlich gegen Ende hin nicht mehr nur auf den Nordirlandkonflikt sondern eher auf das Familiendrama. Dabei schafft Branagh es, genügend unterschiedliche Gefühle auszulösen. So wird Belfast voraussichtlich bei den meisten Filmschauenden Anklang finden. Einerseits macht der Film Spaß, hat ein flottes Tempo sowie charmantes Schauspiel aller Beteiligten. Andererseits fällt er inhaltlich auch etwas flach und ist keine Revolution des Genres. Dennoch ist er mehr als schlichter „Oscar-Bait“ und ein gelungener Film Branaghs, vor allem nach seinem etwas generischen Mord im Orient Express und dem allen Anschein nach nicht sehr gelungen Artemis Fowl.
Hit the Road
Als Sohn des bekannten iranischen Regisseurs Jafar Panahi tritt Panah Panahi in große Fußstapfen. Sein Spielfilmdebüt Hit the Road schafft es dabei, diese auszufüllen.
Auch hier ist die Geschichte eher einfach: Im Zentrum des Films steht die Familie aus Vater, Mutter, einem älteren und einem jüngeren Sohn sowie einem Hund. Sie sind auf dem Weg zur iranischen Grenze. Genaue Hintergründe ihrer Reise werden jedoch nur bedingt beleuchtet. Vor allem der von Energie vollends erfüllte junge Sohn ist ein Auslöser dafür, dass auf der Fahrt die Nerven einiger Familienmitglieder strapaziert werden. So befindet sich die Familiendynamik im Fokus von Hit the Road. Er schafft es in etwas über 90 Minuten, vier verschiedene Charaktere einzuführen und ihnen die Zeit und den Raum zu geben, sich genügend zu entwickeln, gleichzeitig auch zu unterhalten und Spaß zu machen. Nebenbei schafft er es, dem Zuschauer ein wenig iranische Kultur bzw. iranische Musik näherzubringen. Das kann witzig, emotional und politisch sein und trifft dabei einen Nerv. Hit the Road ist einer dieser Filme, der wohl den wenigsten missfallen wird, dafür besitzt der Film einfach ein zu großes Repertoire an kreativen Ideen und ausgezeichnet geschriebenen Dialogen. Neben diesen und exzellenter Besetzung ist Hit the Road auch visuell wunderschön, die Landschaft des Iran wird in eindrücklichen Bildern eingefangen. Ein All-inklusive-Paket, damit lässt sich der Film beschreiben. Hit the Road beweist, dass das Filmemachen bei den Panahis wohl in der Familie liegt. Nun ist nicht mehr nur Jafar ein ausgezeichneter Regisseur. Sollte Hit the Road irgendwann in den Kinos hierzulande starten, könnte er außerdem der Türöffner sein, um dem deutschen Publikum die Kinolandschaft des Iran näherzubringen: eine Filmlandschaft, die zu Unrecht im Schatten der „großen Filmländer“ steht.