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Drehbuch: Jean-Stéphane Bron, Alice Winocour
Schnitt: Julien Lacheray
Kamera: Georges Lechaptois
Schauspieler*innen: Eva Green, Matt Dillon, Zélie Boulant-Lemesle
Land: Frankreich, Deutschland
Sprache: Französisch, Deutsch, Englisch, Russisch
Länge: 1h47min
Genre: Drama, Sci-Fi
Den Sternen so nah
Als die aufeinandertreffenden Handflächen von Sarah (Eva Green) und Stella (Zélie Boulant-Lemesle) nur von einer dünnen Glasscheibe getrennt werden, sind sich Mutter und Tochter trotz minimalen Abstands so fern wie nie zuvor. Auf einmal erscheint alles endgültig. Sarah ist ein Crewmitglied der Mission Proxima und befindet sich seit Tagen in Quarantäne, darf ihre Liebsten nur isoliert treffen. Sie fliegt morgen zu den Sternen, zum Mars. Für ihren Traum muss ihre Tochter beim Expartner Thomas (Lars Eidinger) bleiben.
Regisseurin Alice Winocour erzählt eine Science-Fiction-Geschichte, die gar nicht wie Fiktion erscheint und auf pompöse Planetenpracht verzichtet. Denn ihr Film Proxima schöpft seine Kraft aus der Vorbereitung der Mission und der Nähe seiner Figuren zueinander. Die Ausführung ist zweitrangig, den Weltraum bekommen wir nur in Fetzen zu Gesicht, wenn die kleine Stella in einem Museum die Mondoberfläche über mehrere Bildschirmpanels bestaunt. In ihren Augen spiegelt sich die Ahnung, auf was sich ihre Mama einlässt. Stella wird bald ihre bisherige Bezugsperson für lange Zeit nicht mehr sehen.
Der Tochter so fern
Zu Beginn erhält Sarah die Zusage, mit den zwei Astronauten Mike (Matt Dillon) und Anton (Alexey Fateev) Teil von Proxima zu sein. Muss sie sich am Anfang noch frauenfeindliche Äußerungen von Mike gefallen lassen wie „wenigstens haben wir eine französische Köchin an Bord“, relativiert sich das schnell. Nachdem sie eine Unterwasserübung auf den letzten Drücker absolviert, reflektiert Mike selbst seinen Umgang. Doch je näher die Marsreise der Astronautin rückt und die Missionsmitglieder zu Freunden werden, der grenzenlose Weltraum in Reichweite erscheint und selbst ein Mix aus Französisch, Englisch, Deutsch und Russisch keine Sprachbarriere aufkommen lässt, desto mehr entfernt Sarah sich von ihrer Tochter.
Die alleinerziehende Mutter wird emotionaler, sobald ihre Tochter bei Thomas in Darmstadt unterkommt. Von nun an sind nur streng getaktete Besuche möglich, die Wochen auseinanderliegen. Telefonate und Videoanrufe helfen aus. Winocour blendet an einer Stelle den Bildschirm von Sarahs Smartphone ein. Stellas Gesicht verkommt durch die Bitrate des Videoanrufs zum Pixelbrei. Zwischen den Trainingssessions seine Geliebten nur als digitale Fragmente zu sehen, nur erahnen zu können, wie sie tatsächlich aussehen, gehört zum Alltag.
Über die nahen Bilder breitet sich eine Ruhe aus, die in ihren stillsten Momenten auch die Tränendrüsen belastet. In einer Szene beim Expartner bringt die Mama die Tochter zu Bett. Anstatt einer Umarmung dreht sich Stella von ihr weg, klammert sich zum Einschlafen an ein T-Shirt ihrer Mama. Abschiede gelingen einfacher, wenn man denkt, der fehlende Part sei noch anwesend – und wenn das nur der Geruch ist. Nicht nur von Stella wird einmal tief eingeatmet, sondern auch vom Publikum.
Denn Sarahs Opfer ist groß, das Leid ihrer Tochter noch größer. Sie hat Lernschwächen und unterhält sich mit ihrer Mama auf Französisch. Jetzt muss sie an einer deutschsprachigen Schule in Darmstadt Fuß fassen. Schwerer kann es einem Kind trotz bilingualer Erziehung kaum gemacht werden – weswegen Sarah zu zweifeln beginnt. Zwar spricht sie das nie aus, aber Eva Greens Körperhaltung und Blicke legen die Gefühlswelt und Ratlosigkeit ihrer Figur offen.
Sehnsucht statt Pathos
An einer Stelle sagt Thomas zu Sarah: Du wolltest ein Fahrrad, jetzt fahr es auch. Zweierlei geht daraus hervor: Du hast dich entschieden, also zieh es durch; und nur der eiserne Wunsch verspricht, voranzukommen. Beim Fahrradfahren zu stürzen und erst dann zu merken, was für Risiken mit der Entscheidung einhergehen, muss man sich also vorher bewusst sein. Ein Kurswechsel ist nicht möglich.
Diesem Prinzip bleibt Winocour in ihrem Film treu, ohne ihre Hauptfigur dabei auf ein Podest zu heben. Es geht nicht um die Mission selbst, sondern um das, was sie bei den Beteiligten und ihren Angehörigen vorher auslöst. Statt von einem kleinen Schritt für einen Menschen, aber einem großen für die Menschheit zu sprechen, handelt Proxima von einem großen Schritt für eine geteilte Familie, aber einem kleinen in der Erkundung des Weltalls. Die besten Momente sind nicht grundlos still. Sie halten fest. Wir beobachten. Pathos kommt hier zu keiner Sekunde auf – und das ist es, was Proxima mit Sarahs und Stellas Sehnsucht so großartig macht.