Die Welt der Filme scheint unendlich groß. Und häufig scheint sie unbezwingbar. Denn je weiter man in die Welt eintaucht, je mehr Filme man schaut, desto mehr Ungesehenes entdeckt man. Wo der Kosmos eines Einsteigers noch von ein paar einzelnen Filmemachern (wie Nolan oder Tarantino) geprägt ist, offenbart das Beschäftigen mit dem Medium einem Fakten und Namen, von denen man zuvor nie mitbekommen hatte. Eine japanische Komödie von einem Mann namens Akira Kurosawa ist die größte Inspiration unseres heißgeliebten Krieg der Sterne? Ein schwedischer Kerl, der den Namen Bergman trägt, scheint das Drama-Genre wie kaum ein anderer geprägt zu haben? Es gibt noch mehr Filmpreise als die Academy Awards? Und vor allem: Film kann über den klassischen Hollywood-Stil hinausgehen?
Als Filmbegeisterter packt es einen dann. Man möchte mehr wissen. Wer sind all diese Männer (leider sind es meistens Männer) und warum werden ihre Filme so gefeiert, obgleich diese Namen im eigenen Umfeld nicht ein einziges Mal gefallen sind? Im Format Director Discovery entdecken wir für uns noch völlig unberührte (versteckte) Legenden der Branche, führen uns möglichst viele ihrer Werke zu Gemüte und teilen mit euch unsere Eindrücke, Anregungen und Emotionen. Nicht jede Filmographie wird bis ins letzte Eck durchleuchtet – es geht darum, einen Regisseur gemeinsam mit euch kennenzulernen.
Andrei Tarkowski
Der erste auf der Liste ist Andrei Arsenjewitsch Tarkowski. Der 1986 verstorbene sowjetische Regisseur wird in der Szene, so deutlich muss man es sagen, ubiquitär gefeiert. Jeder einzelne seiner leider nur sieben Spielfilme gilt für viele als Meisterwerk, als Drama oder Science Fiction in Hochform. Noch mehr als das: Viele sehen Tarkowski als einen der Filmemacher des 20. Jahrhunderts. Das muss einen Blick wert sein. Seine bekanntesten Werke Solaris und Stalker fristen schon seit Jahren ihren Aufenthalt auf meiner Watchlist. Doch wo starten?
Ich will es mir einfach machen: Iwans Kindheit ist nicht nur sein erster Film in Spielfilmlänge, er ist auch nur kompakte 90 Minuten lang und gilt als intellektuell einfacher verdaulich als andere seiner Werke. So sei es also.
Iwans Kindheit
In dem Kriegsfilm aus dem Jahre 1962 beschreibt der Titel eigentlich perfekt, worum es geht. Iwan ist ein 12-jähriger Junge, der während des zweiten Weltkrieges von der roten Armee scheinbar als Spion eingesetzt wird, da er durch seine Schlüpfrigkeit verfeindete Linien deutlich einfacher unbemerkt überqueren kann als es ausgewachsene Soldaten könnten. Der Film beleuchtet diese Phase seines Lebens und offenbart über die Laufzeit hinweg, welches Schicksal er in den Monaten zuvor erleiden musste.
Eröffnet wird Iwans Kindheit aber nicht von einem Kriegsschauplatz, sondern von Idylle pur. In übersättigtem Weiß folgen wir dem fröhlichen Iwan in die Natur zu seiner liebevollen Mutter. Es ist eine von mehreren Traumszenen, die sich durch den Film ziehen. Immer wieder macht Tarkowski klar, dass das friedliche Idyll nicht lange her ist. Dass Iwan sich nichts sehnlicher zurückwünscht als seine eigene Vergangenheit. Stilistisch wird dabei schnell klar, womit Tarkowski arbeitet. Er taucht Traum und Realität in einen starken Kontrast zueinander – während wir uns im Traum in völlig übersättigtem Weiß bewegen, werden wir in der Realität mit der trostlosen Gräue des Krieges konfrontiert. Ein einfaches Mittel, mit dem der Regisseur dem Zuschauer nicht nur die Differenz zwischen Fantasie und Wirklichkeit näher bringt, sondern auch das Innenleben Iwans vertieft.
In der Realität wirkt der Junge selbst nämlich mehr als befremdlich. Das letzte, das man bei ihm vermuten würde, ist sein Alter von 12 Jahren. Er konfrontiert sowjetische Soldaten, die ihm seine Rolle als russischer Spion nicht abkaufen wollen, abgebrüht und knallhart. Eine Reaktion, die man wohl kaum von einem gerade so pubertären Jungen erwarten würde. Stattdessen erinnert er mehr an einen verbitterten alten Mann, der bereits zahllose Jahrzehnt hinter sich hat. Er strahlt als Protagonist eine enorme Tragik aus. Sein tiefer Blick, seine ernste Art, die offensichtlich jegliche Leichtigkeit durch die vom Zuschauer zu Beginn nur vermuteten traumatischen Erlebnisse in den letzten Monaten und Jahren verloren haben. Sein Auftreten, seine Präsenz. Nikolay Burlyaev spielt den Jungen – Ein beeindruckender Auftritt.
Anstatt sich groß anlegend an einem allumfassenden Kriegsepos zu versuchen, bleibt Tarkowski immer bei Iwan. Es geht um ihn, nicht um den weltenerschütternden Krieg. Es geht um ihn, was dieser Krieg mit ihm macht. Ein Fokus, der sich durch Tarkowskis Filmographie ziehen wird? Seinen Umfang erkauft sich Tarkowski also nicht mit inszenatorischer Breite, sondern mit Symbolismus. Es ist schwer, nicht zu erkennen, dass Iwan für all die Kindheiten steht, die ein Krieg zerstört. Er steht für all die Kinder, die gezwungen wurden, egal in welchem Alter, ihre beschützte Phase des Kindesalters mit einem mehr als harten, erbarmungslosen Erwachsenenleben zu tauschen. Er steht für all die Kinder, deren Unschuld geklaut wurde.
Ich glaube, das ist es, was ich letztendlich aus diesem Film bezüglich Tarkowski mitnehme. Iwans Kindheit ist ein einfacher Film, der an seiner Symbolik aber derart wächst, dass er eine Art melancholisches Elends-Epos ist, der für alle individuellen Grauen steht, die der Krieg verursacht. An der Oberfläche simpel, darunter komplex. Zeigen tut sich das – wer hätte es gedacht – an der Bildsprache. Selten habe ich so offensichtlich vielsagende und symbolische Bilder gesehen wie in Iwans Kindheit. Schaut euch alleine diese beiden Bilder an:
Ein Soldat küsst eine junge Frau und hält sie dabei fest umschlungen, sodass sie nicht in den Graben fällt, der den friedlichen Birkenwald durchbricht. Ein wunderschönes Bild, in das man so viel hineininterpretieren kann.
Dann der Junge Iwan, der in einem zerstörten Dorf vor einer Kriegsruine steht – die spitzen Holzreste zeigen alle auf ihn, als würden sie ihn aufspießen wollen.
Es sind diese Bilder, die so auffällig sind – sowohl in ihrer Symbol als auch in ihrer Schönheit. Ich bin mir sicher, dass sich das auch in den weiteren Tarkowski-Filmen wiederholen wird.
Als Tarkowski-Laie fällt mir vor allem die inszenatorische Nähe zu Ingmar Bergman (Wilde Erdbeeren, Das Siebente Siegel, Persona) auf. Iwans Kindheit ist sehr ruhig, die Kamera bewegt sich kaum und bleibt sehr nah an den Figuren, Musik wird spärlich und gezielt eingesetzt und es passiert nur verhältnismäßig wenig. Ist Tarkowski filmisch gesehen eine Art sowjetischer Bergman, der lediglich mit anderen Themen und Genres experimentiert? Ich werde es in den nächsten Wochen herausfinden.
Iwans Kindheit ist unheimlich und faszinierend. Die Charakterisierung des Jungen gepaart mit den großartigen Bildern hat mich ziemlich begeistert – wenngleich ich sagen muss, dass es mir ein ähnlicher Film noch mehr angetan hat: Anders als Iwans Kindheit hat mich Komm und Sieh auch emotional gänzlich mitgerissen, hat mich mehr mitfiebern lassen und mich die Situation der Menschen noch mehr hassen lassen. Der absolut große Wurf war Iwans Kindheit – wenn man den Vergleich mit anderen Filmen sieht – also noch nicht, auch wenn mir der Film sehr gut gefallen hat. Ich bin aber mehr als gespannt, ob mich beispielsweise Solaris oder Stalker wirklich umhauen werden…