SynopsisCrewDetails
Adam hat eines Nachts in seinem fast leeren Londoner Hochhaus eine zufällige Begegnung mit seinem mysteriösen Nachbarn Harry, die seinen Alltagsrhythmus durchbricht. Sie kommen sich schnell näher und der sonst so introvertierte Adam vertraut sich dem einfühlsamen Harry schnell an. Er erzählt ihm von seiner Kindheit und von seinen Plänen für ein Buch, das er über sein Leben schreiben will. Dazu begibt er sich auf eine schwierige Reise in die Vergangenheit. Er fährt zu seinem Elternhaus, wo alles so zu sein scheint, wie er es zurückgelassen hat. Auch seine längst verstorbenen Eltern scheinen keinen Tag gealtert zu sein. Hat seine lange Einsamkeit und Trauer dazu geführt, dass er jetzt die Kontrolle über die Realität verliert? Denn wie sollte es sonst möglich sein, plötzlich seinen verstorbenen Eltern gegenüberzustehen?
Regie: Andrew Haigh
Drehbuch: Andrew Haigh
Schnitt: Jonathan Alberts, Chloe Kilby, Edward Johns
Kamera: Jamie D. Ramsay
Schauspieler*innen: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy
Produktionsjahr: 2023
Land: Großbritannien, USA
Sprache: Englisch
Länge: 1h46min
Genre: Romance, Drama, Fantasy

Adam (Andrew Scott) ist ein alleinstehender Drehbuchautor, der in einem kleinen Apartment eines mehrstöckigen Hochhauses in London lebt. Es scheint, dass außer ihm niemand darin lebt und dementsprechend isoliert wirkt das gesamte Szenario. Adam kommt mit dem Schreiben nicht voran, es macht den Eindruck, dass ihn etwas beschäftigt, vielleicht lenkt er sich damit auch nur von seiner Einsamkeit ab.

Zu später Stunde ertönt ein Probealarm – nicht der Erste, wie es scheint – und Adam verlässt widerwillig das Gebäude. Während er von außen auf die leblose Glasfassade blickt, bemerkt er ein Licht, das in einem der anderen Apartments brennt. An einem der Fenster steht ein Mann, der sich als der scheinbar einzig weitere Bewohner des Hauses entpuppt.

Später dann, klopft es an Adams Tür. Als er sie öffnet, steht ein junger Mann vor ihm. Sein Name ist Harry (Paul Mescal), welchen man schnell als den Mann identifiziert, den man bereits von unten erblicken konnte. Leicht angetrunken möchte er mit Adam ins Gespräch kommen. Dieser reagiert jedoch zögerlich, fast schon verängstigt und lehnt ab, als er den Wunsch äußert, die Wohnung zu betreten. Irgendwas scheint seltsam an ihm zu sein und nachdem sie miteinander geflirtet haben, schließt Adam abweisend die Tür. Eine weitere Nacht, in der er allein bleibt – eine verpasste Chance?

Tiefe Blicke von Fremden

Dies ist die erste Begegnung der beiden und sofort ist der Zuschauer in den Bann gezogen. Man wünscht beiden Figuren das, was sie bereits mit ihren von Sehnsucht gezeichneten Gesichtern preisgeben. Es ist eine Szene, die aus vielerlei Gründen im Gedächtnis bleiben wird und eines macht Regisseur Andrew Haigh damit von Beginn an klar: All of Us Strangers ist großes Schauspielkino. Es gibt viele brillante Szenen im Film und doch ist es vielleicht die Beste. Das Prozedere von Begegnungen, das man nun schon aus vielen romantischen Filmen kennt, ist vollkommen frei von Klischees und in diesen ersten paar Minuten wird ein melancholischer Ton manifestiert, der sich auf den gesamten Film überträgt. Mehr oder weniger unterbewusst, wird man emotional auf das vorbereitet, was noch auf einen zukommt.

Verantwortlich dafür ist das Schauspielensemble bestehend aus Andrew Scott, Paul Mescal, Claire Foy und Jamie Bell, die man auf der größten Leinwand sehen muss, die man finden kann. Es lohnt sich auch, den Film mehrmals anzusehen, um wirklich kein Detail zu verpassen. Jeder Blick und jede Nuance ist facettenreich, voller Sehnsucht und Emotionen, aber nie überschwänglich oder aufdringlich. Natürlich lebt der Film von der Chemie zwischen Scott und Mescal, hervorzuheben sind aber auch Foy und Bell, die Adams Eltern fantastisch verkörpern. Andrew Haigh – ein Filmemacher, über den ebenfalls viel mehr gesprochen werden sollte – hat verstanden, wie er diese starken Darsteller nutzen kann und parallel eine Realitätsflucht geschaffen, die All of Us Strangers von seinen vorherigen Filmen abhebt.

Intimität in verbaler Form

Die Handlung basiert lose auf dem 1987 erschienen Roman Sommer mit Fremden von Taichi Yamada, jedoch wurden sich einige Freiheiten genommen, die gänzlich für die Qualität des Films sprechen. Zudem wurde die ursprünglich heterosexuelle Liebesbeziehung in eine homosexuelle umgewandelt – vermutlich eine persönliche Note des Regisseurs. Wie auch schon in Weekend befasst sich Haigh aber so selbstverständlich mit Homosexualität, dass man den Kontext des Films schwer darauf herunterbrechen kann. Es gibt zwar wundervoll gespielte Dialoge, in denen die Bedeutung von Queersein aufgegriffen wird, All of Us Strangers ist aber mehr als das.

So selbstverständlich, wie es von Haigh geschrieben ist, wird es von den Darstellern gespielt. Besonders schön sind die Momente, in denen sich die Figuren in Gesprächen öffnen, verständnisvoll sind und zuhören. Das ist dann meist sogar intimer als die wundervollen Sexszenen. Wenn Adam dann davon spricht, dass seine Eltern bei einem Autounfall verstorben sind, als er noch ein Kind war und jetzt versucht, über sie zu schreiben, scheint Harry dafür die perfekten Worte zu finden.

Reise durch die Geisterwelten

Ein weiterer Handlungsstrang bahnt sich an, als Adam beginnt in Erinnerungen zu schwelgen und alte Gegenstände und Fotos aus seiner Kindheit wiederfindet. Er verlässt seine Wohnung, fährt mit dem Zug in die Vorstadt Londons und nur kurze Zeit später findet er ein Haus, das bereits auf einem der Fotos zu sehen war. Es dauert dann nicht lange, bis der daraufhin auf seine Eltern stößt und sich ein weiterer Schauplatz aufbaut: Neben dem Apartment in dieser dystopisch angehauchten, verlassenen Welt, gibt es nun sein altes Elternhaus, das ihm Wärme spendet. Aber war da nicht etwas? Ein gespenstisches Gefühl bahnt sich an.

Spätestens jetzt vermischen sich die ersten Ebenen, mit denen der Film sowohl inszenatorisch als auch dramaturgisch reichlich arbeitet. Zwischen zwei Welten wandelnd, sieht man Adam hin- und hergerissen. Dazwischen gibt es nicht viel. Zwar sieht man ihn mal durch die besagte Vorstadt laufen, im Auto sitzen oder mit der Bahn fahren, diese Momente heben sich aber von den eigentlichen Hauptschauplätzen ab. Die Außenwelt dient mehr als ein Portal, das Adam von der einen Welt in die andere versetzt. Die meisten Passanten um ihn herum sind nicht einmal zu erkennen. Nur wenige fremde Gesichter dürfen sich aus der Unschärfe befreien und was man daraufhin sieht, ist auch nicht mehr, als ein vertrautes, aber zugleich fremdartiges Spiegelbild Adams – eine Erinnerung an vergangene Zeiten. Besonders auffällig wird das, wenn er einem Kind im Zug in die Augen sieht. Möglicherweise sieht er sich selbst.

Das Kind in uns

Das Alter spielt ohnehin eine große Rolle in All of Us Strangers. Adam ist in seinen 40ern, während Harry Ende 20 ist – allein das ist schon hochinteressant. Adams Eltern hingegen scheinen seit ihrem Unfall vor etwa 30 Jahren keinen Tag gealtert zu sein. Besonders absurd wirkt das, da sie ihn behandeln, als sei er noch ein Kind, aber ihre ausufernden Gespräche drehen sich um ein Leben, das er ohne sie führen musste. Teils klassische Fragen, die jeder Erwachsene von seinen Eltern hören muss, wenn man ihnen einen Besuch abstattet, vermischen sich mit dem Gedankenspiel, das All of Us Strangers zu einem Genrefilm macht. In diesen Momenten erinnert man sich zumindest im Ansatz an Petite Maman von Céline Sciamma, der allerdings deutlich versöhnlicher mit dem Thema umgeht.

Was man ihnen noch alles sagen möchte

All of Us Strangers ist weniger versöhnlich, da sein Ausweg nichts mehr mit einer Konfliktlösung in der realen Welt zu tun hat. Adams Geister lassen sich nicht zurückholen und sein letzter Ausweg bleibt die Flucht vor der Realität. Aus einem gespenstischen Rückzugsort, der offenstehende Fragen birgt, die ihn sein Leben lang begleitet haben, wird schnell eine Droge. Die Vorstellung, was man seinen Eltern alles sagen möchte, wenn sie eines Tages nicht mehr auf dieser Welt wandeln, ist eine, die sich niemand durch den Kopf gehen lassen will. Adam wird süchtig danach, seine Eltern zu besuchen, auch wenn ihre gemeinsamen Gespräche zwar wunderschön sind, aber keineswegs so harmonisch, wie man es erwarten würde. Sie leben in einer Welt, in der andere Weltanschauungen dominieren und Adam gelingt es nur mühsam, den Frieden mit ihnen zu finden, sobald seine Sexualität zum Thema wird.

Zwischen diesen zwei Welten offenbart sich die Liebesbeziehung damit Harry als die gesündere. Bei ihm kann Adam sein, wer er ist. Harry repräsentiert die mögliche Zukunft, nach der sich Adam richten muss, um aufzuhören, in die Vergangenheit zu blicken. Doch sieht er in Harry vielleicht mehr, als nur einen Geliebten: In einer wichtigen Szene liegt er mit seinen Eltern im Bett, angezogen wie ein kleines Kind, weil er nicht schlafen kann. Als er sich zu seinem Vater umdreht, liegt da jedoch Harry. „Du solltest nicht hier sein“, sagt er zu ihm. Seine Träume überlappen sich, aber vielleicht zeigt dies auch, dass Harry nun den Platz seiner Eltern angenommen hat.

Liebe in der Unendlichkeit

Adam hat Liebe verdient. Ist es noch wichtig, ob diese echt ist oder nicht? Man fragt sich, ab welchem Punkt nichts mehr echt ist. Die Antwort darauf wird man mehr oder weniger erhalten, garantiert ist jedoch, dass All of Us Strangers dem Zuschauer das Herz zerreißt und Gedankenspiele bietet, die filmischer nicht umgesetzt werden könnten. Hervorzuheben ist eine sehr lange Partyszene, die an einen Drogentrip erinnert, zugleich aber aufzeigt, wie viel Zeit vermeintlich vergangen ist. Insbesondere diese Szene bietet eine Farbpracht, die man so nicht oft in Filmen genießen kann, und einen Soundtrack, der danach schreit, rauf- und runtergehört zu werden.

All of Us Strangers ist ein inszenatorischer Triumph, der sich kaum reproduzieren lassen wird. Man wird diesen Film noch oft besprechen, weil er mit all diesen Gefühlen so nah am Zahn der Zeit ist. Man wird ihn nicht zu Rate ziehen, sondern sich darin verlieren wollen. Zwischen Sehnsucht, Flucht vor der Realität und Liebe zeigt Andrew Haigh die isolierte Gefühlswelt der heutigen Generation und das in unter zwei Stunden Laufzeit. Die Liebe in All of Us Strangers ist endlich und unendlich zugleich. Man sehnt sich nach dem, was man nicht bekommen kann. Ein Film zum Träumen, Weinen und Leiden — und damit jetzt schon eine der besten Romanzen der Dekade.

ALL OF US STRANGERS LÄUFT SEIT DEM 8. FEBRUAR 2024 IN DEN DEUTSCHEN KINOS

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