Als Mari Gilberts (Amy Ryan) Tochter verschwindet, treibt sie die Inaktivität der Polizei in ihre eigenen Ermittlungen in der Long-Island-Gemeinschaft, wo Shannan zuletzt gesehen wurde. Ihre Suche lenkt Aufmerksamkeit auf über ein Dutzend ermordete Sexarbeiterinnen, die Mari die Welt nicht vergessen lassen wird…

Netflix verwendete bei Lost Girls die realen Ereignisse um den sogenannten Long-Island-Killer, um einen fiktiven Crime-Thriller zu erschaffen. Die zweifach oscarnominierte Dokumentations-Regisseurin Liz Garbus entsagte sich der sich von 1996 bis 2013 ereigneten Mordserie in ihrer gewohnten Direktorialarbeit anzunehmen und verfolgte auf Basis des Quellenmaterials anstelle einer faktisch geleiteten Dokumentation einen Spielfilm. So haftet automatisch der Gedanke, ob der rechtschaffene Einsatz von Mutter der vermissten Shannan Gilbert, Mari Gilbert, und wie dessen Privatermittlung erst auf den Long-Island-Killer aufmerksam machte sich als Spielfilm beweisen kann oder doch eher als richtige Dokumentation den Aktivitäten dieser Frau und wie sie einen Fall vorangetrieben hat, von dem die Polizei gar nicht wusste, dass es überhaupt einen gibt, hätte gerecht werden können.

Mit Lost Girls tritt man einer schwierigen auf wahren Begebenheiten basierenden Kriminalgeschichte gegenüber, dessen fiktionales Filmprodukt seine tragischen Ereignisse ebenso lobenswert wie nüchtern verkauft.
Im Licht charakterbezogener Einzelheiten der Geschichte hat Lost Girls herausragendes Charakterdrama mit Vertiefungen in zahlreiche Themen wie Elternschaft bis auf Vorurteilen ruhendem Desinteresse der Polizei gegenüber bestimmter sozialen Schichten zu bieten. Viele Dialoge und Szenen zeigen Probleme dieser Themen auf, sprechen sie an, ohne dabei zu strikt aufgesetzt zu werden und verschaffen dabei noch einen effektiven Einblick in individuelle Probleme der Figuren. Hinzukommen tut noch starkes Schauspiel von allen Beteiligten, allen voran von Amy Ryan als hart arbeitende Mutter von drei Kindern, Mari Gilbert, dessen älteste Tochter unter die Vermissten und vielleicht sogar schon Mordopfer gehört. Ihre Darstellung wirkt durch den zielgerichteten Konflikt in allen Facetten umso authentischer, sei es pure Aggression aufgrund bewusster Distanz der Polizei zu dem Verbleiben ihrer Tochter, die ihr auflauernden (Selbst-)Beschuldigungen oder ihre fokussierte Obsession, den Fall selbst in Anbetracht der furchtbarsten möglichen Ausgangsweise auf eigene Faust mit Hilfestellung ihrer anderen beiden Töchter und zusätzlicher Angehöriger anderer Opfer zu lösen, wenn die Polizei sich weitestgehend davonstiehlt. Die disziplinierten Charaktere kommen einem im Verlauf ihrer eigenverantwortlichen Vermisstensuche nicht nur gefühlvoll nahe, sie stecken einen mit ihrem verbissenen Engagement auf emotionaler Ebene an. Die Dramatik der Situation wird greifbar.

So sehr sämtliche Ermittlungsfehler, vorurteilhafte und methodisch fragwürdige Untersuchungen und anteilnahmslose Selbstbewahrung der Polizei die Emotionalität der Story steigern können, scheint der Thriller stetig auf einer Stelle zu treten. Ein belastbares Verhältnis zwischen Drama und Thriller kann Lost Girls nicht herstellen, dazu mangelt es dem Fall an Höhepunkten in der Ermittlungsarbeit, um das Interesse an jenem aufrechtzuerhalten. Außerhalb der intensiven Auseinandersetzungen zwischen Protagonistin und Beamten gibt es auf beiden Seiten abgegrenzt von der jeweils anderen kaum Brennstoff, der den Kessel zum Brodeln bringt. Die schlampige Polizeiarbeit wirkt dafür zu konventionell und krimigewöhnlich, während die private Ermittlung der Protagonistin recht träge und ereignislos vonstatten geht. Ohne das Hintergrundwissen, dass jene Handlung auf Tatsachen basiert, wächst Lost Girls nicht weiter über einen austauschbaren Krimi hinaus.

Die Kameraführung weiß in der Hinsicht immerhin durch im Genre üblichen Schwenks und Shots eine passende Stimmung zu erzeugen. Das städtisch-ländliche Ambiente wird von einer permanent kühlen Atmosphäre durchzogen, dessen trostlose Wanderschaft immer mehr den Hoffnungsverlust vermittelt, von dem sich die Hauptcharakterin nicht einholen lassen möchte. Das Setting gehobener aber farbloser Ortschaften unterstreicht die Authentizität der Geschichte, sowie es aber auch erneut die standardmäßige Auslegung auf Thrillerseite unterstreicht. Detailaufnahmen von Gegenständen, Einfangen von Körpersprache und weite Perspektiven über das Land bleiben genrecharakteristisch Leitfaden der Kamera. Inszenatorisch bekommt man somit ein kompetentes Wiederholungsverhalten zu sehen, das qualitativ nichts stark zu kritisieren übrig lässt, aber auch einen erkennbaren Eindruck verpasst.

Die Geschichte von Lost Girls bleibt mehr als erzählenswert und relevant, wird aber in eine vergessliche Kriminaluntersuchung eingebettet und ordnet sich in durchschnittliche Sehgewohnheiten solcher Filme ein.
Als Drama funktioniert er aufgrund der kräftigen Performances und vieler Charaktermomente durchaus packend, lässt sich als Thriller jedoch auf flacherer Ebene nicht unbedingt langweilig, aber vollkommen spannungsarm wegschauen.
Der dokumentarische Touch der Geschehnisse ist die größte Stärke von Lost Girls, wo sich in gewisser Weise die anfängliche Annahme bestätigt, dass eine Dokumentation wahrscheinlich die geschicktere Wahl für den Inhalt von Lost Girls gewesen wäre. So hat man ausdrucksstarkes Drama gepaart mit drögem Thriller, das sich auf ein passables Mittelmaß einigt, welches genauso ansehnlich wie überspringbar ist.

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