Unser Unterbewusstsein benötigt nur wenige Augenblicke, um zu entscheiden ob wir unser Gegenüber sympathisch finden oder nicht, ob wir ihm vertrauen oder ob wir uns gar eine Beziehung mit dieser Person vorstellen könnten. Darüber hinaus schließen wir ausgehend von diesem ersten Eindruck auf weitere Eigenschaften einer Person. Das wird als sogenannter “Halo-Effekt” bezeichnet. Aber nicht nur Menschen, sondern auch Filme müssen diesem blitzschnellen Test standhalten. Die ersten paar Minuten reichen uns häufig aus, um die Stimmung, den Erzählstil und natürlich die Figuren einzuordnen und zu bewerten. Auch wenn es nicht unmöglich ist, einen schlechten Ersteindruck anschließend in etwas Positives umzuwandeln, so erzeugt er trotzdem eine gewisse Voreingenommenheit.

Gerade als Einsteiger in die große, weite Welt der Filme kann es schnell passieren, dass man aufgrund falscher Vorstellungen zu sehr mit seinen noch recht eingeschränkten Sehgewohnheiten bricht. Das kann dazu führen, dass man hellauf begeistert ist und seinen filmischen Horizont auf einen Schlag erweitert hat. Oder sogar dazu, dass man völlig abgeschreckt wird, was zur Folge haben könnte, dass man in Zukunft einen großen Bogen um eine Filmografie oder sogar ein gesamtes Genre macht.

Damit euch das nicht widerfährt, möchte ich hier ein paar Filme und ihren filmgeschichtlichen Kontext näher beleuchten, um euch einen reibungslosen Einstieg in bestimmte Gefilde der Filmwelt zu ermöglichen. Wer außerdem darüber hinaus noch tiefer in das Thema einsteigen möchte, der kann gerne einen Blick auf meinen vorherigen Text “Filme schauen – Eine Wissenschaft für sich” werfen.

Dieser Artikel soll ein erster Überblick für Startpunkte in die Filmographie einzelner Regisseure oder ganzer Filmäras sein.

Der General – Buster Keaton

Die ersten 30 Jahre der Filmgeschichte waren sehr wortkarg. Erst 1927 mit der Premiere des Films Der Jazzsänger musste der Stummfilm dem beim Publikum rasch an Popularität gewinnenden Tonfilm, damals auch “Talkies” genannt, weichen. Filme wie Boulevard der Dämmerung, Du sollst mein Glücksstern sein und The Artist erzählen von diesem Umbruch der vor allem die Karrieren vieler Schauspieler beendete.

Der aus meiner Sicht einfachsten Einstieg in die Stummfilmzeit gelingt mit den legendären Komödien dieser Ära: Charlie Chaplin, Harold Lloyd und mein persönlicher Favorit Buster Keaton schaffen es nämlich auch ganz ohne Worte den Zuschauer zum Lachen zu bringen. In Der General verkörpert Buster Keaton einen Lokomotivführer, der während des amerikanischen Bürgerkriegs zwischen die Fronten gerät. Dort kämpft er nicht nur um seine geliebte Lok, sondern natürlich auch um die Gunst eines Mädchens. In nicht einmal 80 Minuten zeigt Keaton eindrucksvoll, was seine Stärken sind. Clevere und bis ins kleinste Detail durchdachte Situationskomik, gepaart mit handgemachten und unfassbar aufwändigen Stunts.

Für jemanden, der noch nie zuvor einen Stummfilm gesehen hat, sei noch zu erwähnen, dass das Schauspiel aufgrund der fehlenden Dialoge oft etwas “überzogen” wirken kann. Es wird sehr viel gestikuliert und auch die Mimik der Darsteller mag übertrieben erscheinen. Davon sollte man sich allerdings nicht abschrecken lassen, nach einer Weile fällt es nämlich kaum noch auf.

Wilde Erdbeeren – Ingmar Bergman

Wilde Erdbeeren, oder Smultronstället auf schwedisch, würde ich als Einstieg in die umfangreiche und äußerst bedeutende Filmografie von Ingmar Bergman empfehlen. Die Handlung ist recht schnell zusammengefasst. Ein alter Medizinprofessor, der sich aus seinem Leben zurückgezogen hat, fährt anlässlich seines 50-jährigen Promotionsjubiläums mit seiner Schwiegertochter nach Lund. Auf der Fahrt driftet er immer wieder in ferne Erinnerungen und Tagträume ab, in welchen er mit seinen Fehlern und Mängeln konfrontiert wird.

Hier zeigt sich sehr deutlich worauf Bergman in seinen Filmen häufig den Fokus setzt. Die Geschichten dienen lediglich als Vehikel, um den komplex gezeichneten Figuren einen Bewegungsraum zu gewähren. Zwischenmenschlichkeit, Selbstreflexion und Existenzialismus sind elementare Themen seiner Werke. Es erwarten euch außerdem viele Dialoge, sowie lange und statische Einstellungen die nicht zufällig an das Theater erinnern. Denn der Schwede hat neben der Arbeit am Filmset auch sehr viel Zeit auf beziehungsweise neben der Bühne verbracht.

Man könnte sagen ein Künstler durch und durch, der in seine Werke stets Erfahrungen und Beobachtungen des eigenen Lebens mit einfließen hat lassen. Nichts für einen gemütlichen Sonntagnachmittag, aber trotzdem einen Blick wert. Auch wenn ich persönlich denke, dass die meisten seiner Filme erst so richtig funktionieren, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat.

Rashomon – Akira Kurosawa

Das japanische Kino gilt für viele Cineasten als der heilige Gral der Filmwelt. Sei es Studio Ghibli, das seit über 30 Jahren Jung und Alt mit seinen Zeichentrick-Filmen verzaubert. Aber auch darüber hinaus gibt es eine Vielzahl großartiger Vertreter wie etwa Akira, Ghost in the Shell oder Millennium Actress. Dann ist da noch die radioaktive Riesenechse Godzilla, welche bis heute in mehr als 30 Filmen gewütet hat. Abseits dieser großangelegten Produktionen hat hat die Filmlandschaft Japans aber auch etliche kleinere Dramen wie Hana-Bi oder Shoplifters zu bieten, die häufig auf intime Art und Weise von einzelnen Schicksalen erzählen. Und dennoch, wer heutzutage über japanische Filme spricht, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst ein anderes Genre im Kopf haben: Die Samurai-Filme.

Ein mysteriöser Mann kommt in ein kleines Dorf, seine weiten Ärmel wehen im kalten Herbstwind. An seiner Hüfte hängt ein Katana – wie viele Leben es wohl genommen hat? Mit grimmiger Miene läuft er über den menschenleeren Marktplatz. Es liegt etwas in der Luft.

Wer sich diese Szene in schwarz-weiß vorgestellt hat, der wird vermutlich mit den Filmen Akira Kurosawas vertraut sein. Auch wenn einige Werke der japanischen Regielegende wie beispielsweise Ikiru – Einmal wirklich leben oder Zwischen Himmel und Hölle sich nicht um den Mythos der Samurai drehen. Die sieben Samurai gilt dabei als heiliger Gral, nicht nur in Kurosawas Filmographie, sondern auch in der Filmgeschichte allgemein. Mit seinen sehr stolzen 207 Minuten ist die Hürde, sich diesen Film anzuschauen, jedoch recht hoch.

Geradliniger, kurzweiliger und nicht weniger grandios wäre da Rashomon, der zurecht in zahlreichen Philosophie-Stunden exemplarisch für die Subjektivität der Wahrheit präsentiert wird. Aber keine Sorge, man muss kein ausgewaschener Philosoph sein, um “hinter” Rashomon zu kommen. Kurosawa erzählt so klar und direkt, dass der Film wirklich für jeden etwas ist.

Wer es noch nicht wusste: Kurosawa war auch ein begnadeter Maler und fertigte die Storyboards seiner Filme oft selbst an. Die gemäldeartigen Skizzen zu Ran könnte man glatt mit den Bildern aus einem Museum verwechseln.

An Elephant Sitting Still – Hu Bo

Die Länge eines Films muss nicht immer etwas mit der tatsächlichen Minutenanzahl zu tun haben. Gerade ein jüngeres Publikum ist schnell abgeschreckt, wenn ein Film zweieinhalb Stunden oder länger läuft. Geht es allerdings um Avengers: Endgame, beschwert sich plötzlich kaum einer mehr darüber 180 Minuten im Kino sitzen zu müssen. Sucht man nach einer Erklärung, wird man allerdings schnell fündig. Entscheidend ist hier nämlich das Erzähltempo. Im vierten Avengers-Film passiert ununterbrochen etwas Neues, die Handlung wird stetig vorangepeitscht, wie die Pferde bei einem Wagenrennen. Auch visuell wird der Zuschauer kontinuierlich mit Sinneseindrücken herausgefordert. Es gibt unzählige bunt gekleidete Figuren mit den verschiedensten Fähigkeiten, zwischen denen immer wieder hin und her gesprungen wird. Ein Kampf folgt auf den nächsten und schließlich kommt es zur gigantischen Schlacht, in der die Reizüberflutung nochmal über jegliche Grenze hinausschießt.

Aber nur weil ein Film überdurchschnittlich lang ist (die durchschnittliche Filmlänge beträgt übrigens weltweit gesehen nur etwa 95 Minuten), muss es nicht automatisch bedeuten, dass die Handlung dementsprechend umfangreich ausfällt. Der oben genannte Film An Elephant Sitting Still vom chinesischen Schriftsteller und Regisseur Hu Bo zeigt beispielsweise in seinen 234 Minuten einen Tag im Leben von vier jungen Menschen. Sie streifen verloren durch eine heruntergekommene Stadt im Norden Chinas. Sie wollen ihrem jetzigen Leben entfliehen, wissen aber nicht wie. Hu Bos erster und durch seinen Tod kurz nach Fertigstellung einziger Spielfilm lebt vor allem von seiner eindrucksvoll kreierten bedrückenden Stimmung. Er gibt dem Zuschauer Einblick in eine moderne Welt aus Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit mit der sich heutzutage vermutlich viele junge Menschen assoziieren können.

Solche langsame, ruhige Filme mit langen Einstellungen werden häufig dem Art des Slow Cinema zugeordnet. Werke mit Laufzeiten von fünf oder gar zehn Stunden sind keineswegs ungewöhnlich. In meinen Augen haben solche Filme einen entscheidenden Vorteil, von dem auch Serien profitieren. Ihre Geschichten können eine viel größere dramaturgischen Tragweite erreichen, was wiederum eine ganz andere Sogwirkung erzeugt. Man verbringt mehr Zeit mit den Figuren und taucht so tiefer in ihre Welt ein.  Es ist also wichtig, dass man ausreichend Zeit hat und sich diese auch wirklich nehmen möchte, wenn man plant einen langen Film anzuschauen. Andernfalls kann es schnell passieren, dass unsere durch die Schnelllebigkeit der Moderne fragile Aufmerksamkeit auf einen anderen Bildschirm wandert.