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Der Künstler Anthony McCoy stößt auf die Geschichte des „Candyman“, die er zunächst als Inspiration in seinen Bildern verarbeitet. Als plötzlich mehrere Menschen brutal ermordet werden, verliert Anthony jedoch allmählich seinen Verstand.
©TMDB
Regie: Nia DaCosta
Drehbuch: Jordan Peele, Nia DaCosta, Win Rosenfeld
Schnitt: Catrin Hedström
Kamera: John Guleserian
Schauspieler*innen: Yahya Abdul-Mateen II, Teyonah Parris, Colman Domingo
Produktionsjahr: 2021
Land: USA
Sprache: Englisch
Länge: 1h31min
Genre: Horror, Thriller

Sag seinen Namen fünf Mal in den Spiegel und er tritt hinter dir in Erscheinung. Dein letzter Atemzug wird nahe sein. Bereits 1992 überzeugte die Spukgestalt Candyman in den Lichtspielhäusern. Aus der Sicht der kultivierten Doktorandin Helen Lyle wurde jener Mythos in den von Gentrifizierung geplagten afroamerikanischen Ghettos in Chicago untersucht – natürlich, um darüber eine Dissertation zu verfassen.

Helen verwirkt ihr Leben bei dem Versuch, die Vorstellung einer Kultur selbiger zu entreißen und sie zu entmystifizieren. Kulturelle Ausbeutung und das Neuaufkommen der Aufklärungsbewegung aus dem 18. Jahrhundert kulminierten in einem einzigartigen Horrorfilm, dessen Aktualität durch den weltweiten Alltagsrassismus bis heute fortbesteht.

Aus Alt mach Neu

Jetzt, fast 30 Jahre später, erfährt der nach zwei mäßigen Nachfolgern ausgeschlachtete Candyman eine dritte Wiederbelebung. Die vom Oscarpreisträger Jordan Peele (Get Out, Us) produzierte Fortsetzung vollführt unter der Regie von Nia DaCosta die Meisterleistung, das Original mit der längst überfälligen Gegenperspektive anzureichern: den vorher „nur“ thematisierten, nun aber Hauptrollen einnehmenden People of Color.

Da, wo sich früher das Ghetto befand, ragen nun luxuriöse Hochhäuser. Die Legende des tödlichen Süßigkeitenmannes, der im Spiegel auftaucht und vor allem Kinder mit Bonbons ins Verderben lockt, ist mitsamt Helen in Vergessenheit geraten. Eines dieser modernen Appartements bezieht der sich auf kreativer Durststrecke befindende Künstler Anthony (Yahya Abdul-Matheen II) zusammen mit seiner Freundin Brianna. Als er die Geschichte des Candymans aufschnappt, begibt er sich auf die Suche nach dessen Ursprung – nicht zuletzt aus künstlerischem Antrieb.

In der Gesellschaft schlummernder Horror

Die Horrorgeschichte und ihre titelgebende Entität sind, noch viel mehr als im Originalfilm, ein Konzept. Es symbolisiert systematische Unterdrückung und allgegenwärtigen Rassismus, bestehend aus Jahrhunderte überdauernden Vorurteilen und generationenübergreifenden Marginalisierungen.

Candyman ist eine Erzählung innerhalb des Films über einen afroamerikanischen Maler, welcher mit der Tochter eines Edelmannes eine Liebesbeziehung einging. Daraufhin jagte ihn ein rassistischer Mob, hackte ihm die Hand ab, stieß an deren Stelle einen Fleischerhaken und übergoss das Opfer mit Honig. Die anschließende Verbrennung des von Bienen umschwärmten Malers steht sinnbildlich für rassistisch motivierte Taten. Bagatellisiert man dieses Ereignis, spricht den eigentlich harmlosen Namen „Candyman“ mehrmals aus und blickt dabei seiner perfiden Gesinnung in den Spiegel, ist die Strafe nicht fern.

So bekommt die versnobte Kunstkritikerin Anthonys in ihren eigenen vier Wänden Besuch vom Bienenfreund mit dem Fleischerhaken. Am weiten Terrassenfenster entlanggeschliffen verendet sie an ihren Wunden. Dabei zoomt die Kamera weit hinaus, bis mehrere Stockwerke des Hochhauses sichtbar sind. Ohne die Perspektive zu verlassen offenbart die Einstellung das Fenster als visuelles Pendant einer Bienenwabe und das Gebäude entpuppt sich als betonierter Bienenstock. Das Opfer erweist sich damit als Teil des unterdrückenden Systems.

Aus Subtext entsteht Bodyhorror

Noch eindeutiger tritt jene Symbolik in Verbindung mit Anthony auf. Kaum ist er Candyman auf die Schliche gekommen, sticht ihn eine Biene: Kurz mit der eigenen kulturellen Vergangenheit und deren Leid befasst lässt sie einen nicht mehr los, denn die kleine Schwellung breitet sich aus. Erst die Hand, dann der Arm und irgendwann noch mehr als das – der Künstler wird verletzlicher, je mehr er seinen kulturellen Hintergrund untersucht. Bodyhorror par excellence. Solch eine Bildsprache holt den fruchtbaren Subtext an die Oberfläche. Zwar gleicht die Inszenierung einem Holzhammer, aber ab und an benötigt es eben eine grobschlächtige Methode, Filmschauenden Problembereiche in die Netzhaut zu dreschen.

Wenn kulturelle Ausbeutung existiert, will man wenigstens selbst als Teil der marginalisierten Minderheit davon profitieren, weswegen Anthony seine Schmerzen in Gemälde umwandelt. Die Parallelen zu Sexworker*innen auf ‚erwachsenen‘ Internetseiten – die die Objektifizierung ihrer selbst nutzen, um von den Trieben einer patriarchalen Gesellschaft zu profitieren – sind unverkennbar. Und wer würde es der Figur übel nehmen, das System wenigstens einmal auszutricksen?

Wenn Geschichte zur Verantwortung wird

Regisseurin DaCosta münzt das Candyman-Konzept durch die der People of Color zugehörigen Hauptfigur auf den Diskurs der Bewusstmachung von kultureller Historie um. Sagt Anthony den berüchtigten Namen, tötet der Candyman ihn nicht, sondern tritt an die Stelle von Anthonys Spiegelbild. Die im Original thematisierte Ausbeutung von Kulturen weicht somit zunehmend der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und welche Verantwortung sie mit sich bringt.

Diese Verantwortung sorgt dafür, dass wir Anthony dabei zusehen, wie er mit dem Candyman auch vor dem Spiegel eins wird. Die Grenze zwischen Protagonist und Antagonist verschwimmt. Ein Antagonist für diejenigen, die rassistische Verhaltensweisen mit verschmitztem Lächeln ignorieren. Im Umkehrschluss ist er zugleich ein Bekämpfer der Unterdrückung. Somit gelingt ein Perspektivwechsel, den das Original noch nicht in dieser Schärfe vorweist. Der Fokus liegt nach 30 Jahren darauf, die Opfer sprechen zu lassen, sowohl vor als auch hinter der Kamera.

Dass die letzte gesprochene Zeile des Candymans „Verbreite meinen Namen“ zu Brianna lautet, verwundert da nicht. Sie soll sich auch in Zukunft an die Vergangenheit und Gegenwart marginalisierter Gruppen erinnern. Das Totschweigen in den eigenen Reihen, wie sie auch im Film vorkommt, wird für nicht zielführend deklariert. Insgesamt bereichert dadurch die Neuauflage mit ihrem Subtext das Original, ist ihm mindestens ebenbürtig.

8.0
Punkte