©Al!ve AG
“Ich bevorzuge die Filme, die ihr Publikum im Kino in den Schlaf versetzen. Ich denke, diese Filme sind so freundlich, dass sie einem ein schönes Nickerchen erlauben und einen nicht verstört zurücklassen, wenn man das Kino verlässt. Es gibt Filme, die mich im Kino einschlafen ließen, aber dieselben Filme haben mich dazu gebracht, nachts wach zu bleiben, morgens aufzuwachen und noch wochenlang über sie nachzudenken. Das ist die Art von Filmen, die ich mag.”
– Abbas Kiarostami
Abbas Kiarostami hat ein Gespür dafür, die wichtigen Momente eines Filmes so zu inszenieren, dass sie einem noch lange im Kopf bleiben. Das macht Kiarostami zu einem einzigartigen Regisseur. Wenn man über minimalistisches Kino spricht, wird man an der Filmographie des 2016 verstorbenen iranischen Filmemachers vermutlich nicht vorbeikommen. Seine Filme zeichnen sich durch das Fehlen jeglicher musikalischer Untermalung, durch dialoglastige Drehbücher und ruhige Momente aus. Zusätzlich sind sie tief verwurzelt in der Landschaft seines Heimatlandes, dem Iran. Genau wie ein Kirschbaum.
Mit Der Geschmack der Kirsche hat Kiarostami eine Ode an das Leben geschaffen. Liest man die Synopsis, wirkt es, als würde der Film einen ganz klaren Konflikt im Mittelpunkt haben: Findet Protagonist, Mr. Badii, eine Person, die ihn am Folgetag unter einem Kirschbaum begraben wird, nachdem er sich in der Nacht dort das Leben nimmt? Es wirkt, als würde sich der Film nur damit beschäftigen, doch dem ist nicht so. Eigentlich geht es in Der Geschmack der Kirsche nämlich nicht um den Tod, sondern um das Leben. Während Mr. Badii durch die Hügelketten des Irans fährt und verschiedenste Personen zu überreden versucht, ihm auszuhelfen, wird deutlich, dass sich Kiarostami mit verschiedenen Wahrnehmungen auf das Leben und der Relation des Lebens zur Zeit auseinandersetzt.
Es geht darum, inwiefern man im Leben auf die Zukunft oder auf die Vergangenheit blicken sollte. Es geht darum, die kleinen Momente, die Natur, die Erde und seine Mitmenschen zu schätzen. Es geht eben um das Leben, nicht um den Tod. Und genau das macht Der Geschmack der Kirsche als Film so besonders. Dass Mr. Badii ein Mensch ist, von dem wir so gut wie gar nichts wissen, macht in diesem Fall keinen Unterschied. Es geht auch nicht unbedingt primär um ihn, sondern um die Fragen, die er sich über den Lauf des Filmes stellt. Denn besonders empathisch, liebenswert oder persönlichkeitsstark ist er nicht. Auch das gestaltet Kiarostami mit Bravour. Absichtlich werden uns jegliche Details zu Mr. Badii vorenthalten – wir sollen schließlich nicht urteilen, was für eine Art Mensch er ist. Es macht schließlich keinen Unterschied, ob er arm oder reich ist, ob er eine Arbeit hat oder arbeitslos ist und ob er Familie hat. All das brauchen wir nicht zu wissen, um ihn bei seiner Reise begleiten zu können. All das macht minimalistisches Kino aus. Und all das meistert Kiarostami perfekt.
Der Geschmack der Kirsche ist nicht nur inhaltlich wertvoll ohne dabei zu anspruchsvoll zu werden, er ist auch visuell wunderschön. Über die Laufzeit fährt ein Auto viermal über eine gewisse Hügelkette: Dreimal tagsüber, einmal während der Nacht, dreimal in die Eine, einmal in die andere Richtung. Warum ich das hervorhebe? Ganz einfach, dieser Shot ist jedes einzelne Mal faszinierend anzuschauen. Die meiste Zeit des Filmes verbringen wir im Auto von Mr. Badii, die meiste Zeit des Filmes schauen wir ihm und seinem Beifahrer dabei zu, wie sie dort, in Badiis Auto, Gespräche führen. Der Shot dieser einen Hügelkette bricht dieses Szenario jedes Mal. Er zeigt dem Zuschauer, dass das Leben wie wir es kennen (in diesem Fall sehen) deutlich größer, weiter und breitgefächerter ist als wir es uns vorstellen. Dieser Shot stellt jedes mal eine Metapher da, die man aufgrund der Gespräche allmählich wieder verdrängt, bis sie einem doch wieder gezeigt wird. Sie entgeht einem eventuell beim ersten Schauen, doch wie Kiarostami selbst sagte: “Dieselben Filme haben mich dazu gebracht, nachts wach zu bleiben, morgens aufzuwachen und noch wochenlang über sie nachzudenken.” Und das ist hier der Fall.
Der Geschmack der Kirsche sieht nach nicht viel aus, doch der Film ist ein ruhiges, gefühlvolles und entspanntes Erlebnis, das einem so schnell nicht aus dem Kopf gehen wird. Manchmal mehr Poesie als strukturierter Film ist Abbas Kiarostamis Fahrt wie ein gut geschriebenes Gedicht über den Sinn des Lebens: Eines, dass ohne minutenlange, groß aufgezogene und mit melodramatischer Musik unterlegten Monologe auskommt, sondern mehr Wert auf kleine Details und einzelne Momente legt. Genau so, wie das Leben im Kern auch ist. Abbas Kiarostami ist vielleicht schon von dieser Welt gegangen, ist vielleicht schon in die Erde zurückgekehrt, doch seine Kunst ist für immer verewigt, und wird auch in vielen Jahren noch für Gedankenausbrüche überall auf der Welt sorgen. Möge er in Frieden ruhen, der Abbas, danke für diese Reise.