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Drehbuch: Michel Franco
Schnitt: Óscar Figueroa, Michel Franco
Kamera: Yves Cape
Schauspieler*innen: Tim Roth, Charlotte Gainsbourg
Land: Frankreich, Mexiko, Schweden
Sprache: Englisch, Spanisch
Länge: 1h22min
Genre: Drama
Nachdem Neil (Tim Roth) mit seiner Schwester Alice (Charlotte Gainsbourg) und ihren beiden Kindern Alexa (Albertine Kotting) und Colin (Samuel Bottomley) im herrlichen Acapulco einen gemeinsamen Familienurlaub antreten, verpasst das Schicksal ihrer guten Laune einen strammen Faustschlag: Neils und Alices Mutter teilt ihnen per Telefon mit, dass sie unter kritischen Hintergründen ins Hospital eingeliefert wird. Ohne weiter darüber nachzudenken brechen die Urlauber ihren Aufenthalt ab und chartern direkt den nächsten Flug nach London. Kaum sitzen die Angehörigen im Shuttlebus Richtung Flughafen, kommt der nächste Anruf — diesmal mit der traurigen Nachricht, dass ihre Mutter aus dem Leben geschieden sei.
Ärger im Paradies
Missmutigen und schweigsamen Gemütes trifft die Familie am Flughafen ein, nur um Neil eine fragwürdige Aussage tätigen zu hören, welche ihm zu gegebenem Zeitpunkt aber verhältnismäßig leicht über die Lippen zu gleiten scheint: Er habe seinen Reisepass im Hotelsafe vergessen, weswegen er mit den restlichen Drei nicht nach Hause fliegen kann. Anhand seiner Tonlage und Spontanität der Formulierung lässt sich erahnen, was später bewahrheitet werden soll, denn Neil hat gelogen. Sein Zurückbleiben war kein blöder Zufall, sondern eine bewusst gefällte Entscheidung.
Was verleitet Neil dazu, die Beisetzung der eigenen, erst kürzlich verstorbenen Mutter verpassen zu wollen? Von einem gebrochenen Familienverhältnis fehlt bisher jedwede Spur. Die Harmonie vor Ort sprüht aus jeder Pore, wenn die anwesenden Familienmitglieder am Pool Margaritas schlürfen und zusammen lachen. Auch diese moralisch diskutable Entscheidung auf den Charakter von Neil zurückzuführen, erweist sich als schwer und deckt sich nicht mit dem Bild davon, wie man ihn in den anfänglichen Minuten erlebt hat.
Sundown entwickelt sich zu einem schrecklich stillen Erlebnis. Neil verbringt Zeit am Strand, schließt Bekanntschaften mit Einheimischen und versichert seiner Schwester währenddessen am Telefon, dass er alles in seiner Macht stehende tun würde, um so schnell wie möglich nach England zu folgen. Dabei könnte der Kontrast seines Handelns nicht kräftiger sein, während er in den weichen Wonnen seines Hotelzimmers döst und sich im Nachhinein ein kühles Bierchen genehmigt. Gesprochen wird nur gelegentlich, wobei die Beweggründe Neils unerforscht bleiben. Oftmals verrät sein verträumter Blick in den Sonnenschein, dass er nicht mal über seine Situation zu reflektieren scheint. Keine Reue und keine Zweifel. Totale Zufriedenheit. Die Tonalität der Geschichte ist nun eine völlig andere. Beginnt Sundown noch wie ein aufgeschlossenes Familiendrama, unternimmt die Stimmung den Umschwung zum undurchsichtigen Psychogramm.
Verantwortungsdelegation über interpretative Freiheit
Somit wartet und wartet man auf die Pointe, die niemals kommt: Warum hat er das getan? Eine Spannung dieser Art bekommt man selten vorgesetzt, da per se kein greifbarer Konflikt existiert. Selbst wenn sich die Umstände zuspitzen – schließlich kann er sich nicht ewig verstecken – und ihn unter anderem seine entgeisterte Schwester, der langjährige Anwalt des Familienunternehmens und sogar ein Abgesandter der Britischen Botschaft fragen, was die Motivation hinter seiner Tat gewesen ist, bleibt uns eine Antwort verwehrt. Hierbei wird es zunehmend simpler, Neil als unsympathisch abzustempeln und der Verwirrung klein beizugeben. Wie auch die enttäuschten Bezugspersonen ist man gewillt, den Blick von ihm abzuwenden, ihm als Individuum den Rücken zu kehren. Die Genialität dieses nüchternen Nichterzählens erschließt sich erst im Verlauf der Handlung, wenn man realisiert, dass die Verantwortung, ihn zu verstehen, vielleicht gar nicht bei Neil liegt. Vielleicht liegt sie bei der Audienz.
Bilden nicht wir als Beobachtende das Urteil, von dem ethisch ambivalente Werke wie Sundown leben? Von daher ist die nichtssagend wirkende Inszenierung von Michel Francos Mystery-Drama die einzig richtige für das präsentierte Szenario. Provokant wird uns ein Mann gezeigt, der jede Ausrede, jeden Mittelweg ausnutzt, um sich seiner Verpflichtungen zu entledigen. Sundown lockt einen regelrecht, fordert einen zur Wut auf. Man soll den Protagonisten eintaxieren wollen. Der Film befasst sich damit, wie schnell man bereit ist, andere Menschen in Schubladen einzusortieren und verhindert, dass man von diesem Prozess wegkommt. Mobilisierte Kamerafahrten sind rar zu sehen, für den Großteil des Filmes verharrt die Linse auf derselben Einstellung. Die Augen sind auf Neil fixiert, praktisch mit dem Drang der Durchleuchtung an ihn gebunden.
Als geschichtenerzählendes Medium gewährt der Film uns Raum für Interpretation, überlässt Neils Gedankenwelt unserer Imagination. Durch die konsequente Abwesenheit irgendwelcher Anhaltspunkte zwingt Sundown einen dabei gleichzeitig zur eigenen Auseinandersetzung. Ab wann nehmen wir uns das Recht, über jemanden zu urteilen, dessen Motivationen wir nicht kennen? Und was braucht es, dass diese Überlegungen in eine Abwägung von schlecht und gut ausarten? In den vielen Szenen, in denen kein Wort verloren wird, kommuniziert Sundown am meisten mit der Zuschauerschaft. Er lässt das Publikum Publikum sein, hält ihm gleichzeitig den Spiegel vor.
Ausgehender Redebedarf
Deswegen vergeht einiges von dem Zauber, wenn der Film ab der zweiten Hälfte seinen meditativen Kosmos verlässt und mit Thrillerelementen Pep in die Storyline würzt, den sie nie nötig gehabt hätte. Durchaus ist der Narrative durch Wiederholungen von Strandaufnahmen und Handlungsabfolgen aus Neils neuem Alltag eine gewisse Abnutzung anzusehen. Wendungen und Höhepunkte werden eingebaut, die das Milchglas reinigen und einen Blick auf die andere Seite ermöglichen. Das Mysterium schwindet und Emotionen kommen zum Vorschein. Mitreißend bleibt Sundown aufgrund der aufgebauten Persönlichkeiten immer noch, es ist nur ein völlig anderer Film. Auch der Einschlag als Milieustudie geht schwer von der Hand, wenn der Fokus vorher auf ganz anderen Aspekten liegt.
Dadurch verliert der Film aber keineswegs die anhaltende Faszination zum Thema, welches auch noch im Finale aufrechterhalten werden kann. Und ob Neils Handeln eine tatsächliche Motivation gegeben wird oder nicht, soll hier nicht vorweggenommen werden. Sundown nimmt der Zuschauerschaft nicht die volle Vorstellungskraft. Atmosphärisch in seiner bedächtigen Differenzierung dessen, inwiefern und ob man sich überhaupt eine Einschätzung zum Protagonisten erlauben darf, zeichnet dieser Film ein spannendes Curriculum auf philosophischer Ebene. Filme wie diesen findet man entschieden zu wenig. Filme, die einen nicht nur in fremde Welten eintauchen lassen. Es sind Anregungen, die einem den Zugang in die eigene Welt erleichtern. Dabei darf man sich nicht von der nihilistischen Trägheit des Szenarios verunsichern lassen. Sundown erlebt man am besten, wie Neil es tut: Von Tag zu Tag.
SUNDOWN LÄUFT SEIT DEM 09. JUNI 2022 IN DEN DEUTSCHEN KINOS
7.0 Punkte
Dorian
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Die Leidenschaft Filme jeder Art in sich hinein zu pressen, entbrannte bei mir erst während meines 16. Lebensjahres. Seit diesem Zeitraum meines Daseins gebe ich jeder Bewegtbildcollage beim kleinsten Interesse eine Chance, seien es als Pflichtprogramm geltende Klassiker oder unentdeckte Indie-Perlen.