Die Erlangung gipfelnder Bekanntheit erfolgt über die mediale Verbreitung in unserem modernisierten Zeitalter in keinem Fall so zuverlässig, wie beim Internet. Hat einmal etwas in diesen vernebelten Tälern Anker gelegt, lässt sich dieser praktisch auf Lebzeiten nicht mehr einziehen. Ein Akt, der seine hellen und dunklen Seiten hat. Worüber jetzt hier aber speziell die Rede ist, kommt mit einer gewissen Doppelironie daher, denn von allen hellen Seiten dessen, was uns das Internet beschert hat, ist ebendiese eine der dunkelsten seiner Art. Die Rede ist vom YouTube-Kanal Marble Hornets und der darauf zu findenden Abfolge von Videos, die sich genauso gut als Miniserie ohne konkreten Namen beschreiben lassen. Bestehend aus an der Zahl 88, chronologisch zusammenhängenden Videos, die auf dem Kanal selbst bis auf das erste Video, simplerweise genannt “Introduction”, als “Entry” bezeichnet werden, bildet die Kollaboration eines kleinen Teams ohne große Mittel geschweige denn einer professionellen Ausbildung den Ursprung einer inzwischen weltweit bekannten Creepypasta – den Slender Man.

Eine Figur, mit der es die Zeit nicht unbedingt gut gemeint hat. Nachdem die schaurige Gestalt bereits zu einem global lächerlich gemachten Meme verkommen war, entschied man sich fast zehn Jahre nach dem Hype im Jahre 2018 zu einer filmischen Adaption, als dessen Zentrum der gesichtslose Gigant dienen sollte. Der Grusel um diese verstörende Erscheinung war nach zahlreichen Games und Anekdoten schon dermaßen ausgeschlachtet worden, dass die verspätete Produktion eines Themas, das längst aus der Zeit gefallen ist, als fragwürdiges Unterfangen ein einziges Unikum bleibt. Das Resultat war wie zu erwarten von einem dominierenden Kreuzzug gezeichnet, der den Film nicht nur als einen der schlechtesten des Jahres, sondern locker als einen der schlechtesten Filme der letzten Jahre abstempelte.

Der Zauber scheint auf ewig verflogen – oder doch nicht? Tatsächlich gibt es eine Quelle, die den hochgewachsenen, dürren Mann im Anzug, dessen Antlitz Wahnsinn und unendliche Verdammnis prophezeit, nach wie vor in der Klasse verkörpern kann, die ihm einst zustand. Über den gesamten Zeitraum seiner Präsenz hat bis dato wahrscheinlich niemand den Slender Man so aufleben lassen, wie Marble Hornets. Diese – ich werde sie einfach mal weiterhin so nennen – Miniserie ist ein Meisterwerk des Supernatural-Horrors. Und inwiefern diese Aussage zutrifft, werde ich im weiteren Verlauf des Textes schildern.

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Was ist die Story von Marble Hornets?

Bevor jetzt aber abgehandelt wird, was den Inhalt so grandios macht, sollte eingangs eine Frage geklärt werden: Worum geht es eigentlich in Marble Hornets? Die Geschichte handelt von Jay, einem jungen Filmstudenten, der auf die Tapes eines verworfenen Filmprojektes seines Freundes Alex stößt, an dem Jay unter anderem selbst mitgewirkt hat. Auf diesen Bändern wird Jay Zeuge verstörender Szenen, welche offenbaren, dass Alex und dritte Involvierte von einem übernatürlichen Wesen beobachtet und terrorisiert werden. Kurzerhand beschließt Jay sich in die Angelegenheit einzuschalten und seinen Freunden nicht nur zu helfen, sondern die unbekannte Bedrohung ein für alle mal zu neutralisieren.

Eine mit Bedacht konzipierte Storyline

Es ist von Vornherein bemerkenswert, wie genial die Idee um den undefinierbaren Gegenspieler und die Motivation und Umsetzung eines autonomen Univerums ist. Hinzu kommt ein verwertbares inszenatorisches Vorgehen, ein konsequenter Spannungsbogen und tatsächlich echtes Drama. Das Schicksal der Betroffenen wird mit der Zeit immer ergreifender und einfach schwer anzusehen. Wie einer nach dem anderen an seine Grenzen gepusht wird, Figuren der Verstand bröckelt und diese als Konsequenz langsam aber sicher dem Wahnsinn verfallen, wird effektiv zur Schau gestellt. Neben diesem substanziellen Zusatz ist aber gerade die Art und Weise, wie Spannung aufgebaut wird, was Marble Hornets sehenswert macht. Die Aneinanderreihung der Videos in ihrer gegebenen Reihenfolge und die variierende Länge eines jeden einzelnen Eintrages ist toll ausbalanciert und setzt an den richtigen Stellen Pausen und Wendungen. Das Skript, sofern eines im herkömmlichen Sinne vorlag, ist eine brillant verschachtelte, vor unheimlichen Höhepunkten überquillende Supernova, der es niemand in ihrer Großartigkeit gleichtat, was den Slender Man (hier auch “The Operator” betitelt) erst zu der Ikone machte, die er für lange Zeit war.

Surrealismus in seiner feinsten Form

Die Bedrohung durch das Unbekannte und das Zusammenpiel aus Atmosphäre und Narrative sind in Kombination ein einziger Knochenbrecher. Die vor der Linse auftauchenden Drehorte haben etwas fremdes, distanziertes an sich und bieten die ideale Location für paranormale Aktivitäten, von denen sich nie ganz vorhersagen lässt, wann sie einschlagen. Viele Momente kommen total unberechenbar zustande und sind durch den Found-Footage-Stil von einem beklemmenden Draht zur hautnahen Wirklichkeit durchzogen. Der Einsatz von Horror, Terror und surrealen Elementen wird mit einem Gespür dosiert, dass es trotz seiner nur gelegentlichen Verwendung eine allgegenwärtige Gefahr ausstrahlt. Dies ist wie praktisch alles an dieser Miniserie meisterhaft erwirtschaftet worden. Wann erkennt man den Einfluss einer potenziellen Gefahr zuerst? In dem Moment, in dem sie auftritt. Wann erkennt man aber, wie gefährlich diese letztendlich wirklich ist? In dem Moment, in dem sie plötzlich nicht mehr da ist. Mit diesem Konzept des Zeigens und Nichtzeigens in den jeweils richtigen Situationen peinigt Marble Hornets seine Charaktere und das Publikum. Dadurch bekommt auch der Antagonist ein ganz anderes Gewicht. Wenn man das charakteristische Krisseln der Kamera bemerkt und sich die lauchdünne Silhouette erhebt, drängt einen die Anspannung seine Atmung zu stoppen. Man weiß weder womit man es hier eigentlich zu tun hat, noch was es tatsächlich fähig ist zu tun. Das einzige, was man weiß, ist dass wenn sich die eigenen Wege mit denen dieses Etwas kreuzen, man zu hoher Wahrscheinlichkeit den Pfad in die pure Dunkelheit betritt und diesem fristlos verbunden bleibt. Ein Eindruck, der mit der handgemachten, ehrlichen Technik optisch und akustisch makellos eingefangen wird. Wie gewinnt man ein Spiel, das von Anfang an gegen einen programmiert wurde?

Großes Kino mit begrenzten Möglichkeiten

Dass es sich bei Marble Hornets um kein fett budgetiertes Projekt handelt, wird relativ schnell ersichtlich. Man findet keine auf einem Storyboard vorfindbaren Skizzen und Grundrisse von Shots, keine eleganten Kamerafahrten, kein mühevolles und künstlerisches Editing und auch kein oscarreifes Schauspiel. Und doch schaffte man hier Bilder für die Ewigkeit. Denn wenn Marble Hornets von einem lebt, dann von seiner unnachahmlichen Authentizität. Die Darsteller sind nicht professionell, aber in ihrem Auftreten glaubwürdig. Die Kameraführung lässt sich nicht mit der bildgewaltiger Epen vergleichen, beeindruckt trotzdem aufgrund ihrer Einfachheit mit atemberaubenden Images und Szenerien. Die verschiedenen Settings sind auch ohne teure Beihilfen idyllisch und tragen neben ihrem stimmigen Look auch ein Gefühl von Nostalgie für eine fremde Welt in sich. Alles scheint einem bekannt. Man will sich geborgen fühlen. Es ein Zuhause nennen. Aufgrund der Umstände wird einem dies jedoch stetig verwehrt. Das hier betriebene World-Building verfügt über eine intime Sogwirkung, welche die Geschichte umso tragischer macht. Alle Aspekte scheinen sich gegenseitig zu optimieren und etwas Ganzes zu ergeben, das weit über seiner Machart und ihren Limitationen steht. Marble Hornets führt sich alle seine Nachteile vor Augen und entwickelt daraus immense Vorteile.

Ein Mythos, der seinesgleichen sucht

Ein Mysterium zu inszenieren ist ein trügerischer Akt. Einerseits will man unvoreingenommen genießen, das Geschehen auf sich niederprasseln lassen und überrascht werden. Andererseits will man aber das Geheimnis lüften, sich an Fakten orientieren können und einen Blick hinter die Kulissen werfen. Gegensätze, die einander praktisch ausschließen. Aber ist dies eine ausnahmslos greifende Regel? Marble Hornets widerlegt dieses imaginäre Gesetz mit einem verzwickten Spagat. Die Miniserie gibt einem gerade genug Informationen, so dass sich die Fantasie der Zuschauerschaft entfalten und mit den gegebenen Impulsen auf einen gemeinsamen Nenner kommen kann, übt gleichzeitig jedoch weder Zustimmung, noch Widerspruch aus. Dass vieles innerhalb der Videos ungelöst bleibt, ist ein Faktor, der Marble Hornets furchteinflößend zu begutachten macht. Je mehr sich die Miniserie dem Ende neigt, umso weniger scheint man als ZuschauerIn zu verstehen. Dies wird aber nicht auf einem frustrierenden Weg erarbeitet. Das Interesse an dem, was man gerade nicht versteht, wird nur noch intensiver geweckt. Man verfolgt eine schmerzhafte Straße ohne Rückweg, die einen zur Erkenntnis führt, dass man die Wahrheit wahrscheinlich nie herausfinden wird und wie befreiend sich das doch anfühlen kann. Ein Juckreiz, den man nicht kratzen kann, verfliegt nicht. Der Körper gewöhnt sich nur an ihn.

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Was Troy Wagner und Joseph DeLage auf ihrem privaten Regiestuhl ausgetüftelt haben, ist Horror at its best. Hat man sich also jahrelang an den diversen Spielen des Franchises ergötzt, zahllose Geschichten gelesen und bedauerlicherweise auch den Film dazu gesehen, allerdings noch nie etwas von Marble Hornets gehört, sollte man in Erwägung ziehen, dort mal hinein zu schauen. Dieser kleine Nachruf kann die Brillanz der Miniserie ohnehin nicht in ihrer Vollkommenheit repräsentieren und verlangt von daher vielleicht einen Blick durch das eigene Augenpaar. Deswegen sei am Ende nochmal meinerseits eine klare Empfehlung ausgesprochen, sich an Marble Hornets zu versuchen, wenn man ein Liebhaber des Supernatural-Horrors und insbesondere der Figur des Slender Man ist. Es ist ein Meisterstück.

Für mich ist Marble Hornets ein unglaubliches Projekt und verdient viel mehr Aufmerksamkeit. Ich hatte schon mehrmals davon gehört, als ich die verschiedensten Playthroughs von den verschiedensten Videospielablegern um den Slender Man schaute und habe mich dann irgendwann an diese Miniserie heran getraut. Ohne irgendwelche Erwartungen mitzubringen, wurde ich von dem Produkt überwältigt. Hattet ihr schon Berührungspunkte irgendeiner Form mit der Sage um den Slender Man? Ist euch Marble Hornets bekannt oder hört ihr gerade zum ersten Mal davon? Wenn ja, ist euer Interesse geweckt? Sollte dies der Fall sein, bleibt mir an der Stelle nichts anderes übrig, als euch viel Erfolg bei dem, was auf euch zukommt, zu wünschen. Schaut hin, hört zu, fühlt es, aber dreht euch auf keinen Fall um!