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Die eineiigen Zwillingsgynäkologen Beverly und Elliot Mantle tauschen routinemäßig die Identität, das Leben und sogar die Liebhaber miteinander. Dies führt zu einer Beziehung mit einer Schauspielerin und zu einer physischen und psychischen Talfahrt, die beide an den Rand des Wahnsinns treibt.
© MUBI
Regie: David Cronenberg
Drehbuch: David Cronenberg, Norman Snider
Schnitt: Ronald Sanders
Kamera: Peter Suschitzky
Schauspieler*innen: Jeremy Irons, Geneviève Bujold
Produktionsjahr: 1988
Land: Kanada
Sprache: Englisch
Länge: 1h55min
Genre: Thriller, Horror

Vom metaphysischen Prinzip der Seelenverwandtschaft hat jeder schon mal gelesen oder zumindest gehört. Ist man jedoch selbst Teil eines Geschwisterpaares, lässt sich diese an ein bestimmtes Gefühl koppeln. Eine tiefere, gar überirdische Verbundenheit zum Gegenüber existiert, die über geteilte Ansichten oder Empfindungen hinausgeht. Vielmehr ist von einer nonverbalen Kommunikationsebene die Rede, man fühlt sich emotional zu der betroffenen Person zugehörig.

Für die Zwillinge Elliot und Beverly (Jeremy Irons) definiert das Zusammensein ihren kompletten professionellen wie auch privaten Alltag. Als hochangesehene Gynäkologen betreuen sie diverse Klientinnen auf dem Gebiet weiblicher Unfruchtbarkeit, gleichzeitig teilen sie sich aber auch ihre aktuellen Geschlechtspartnerinnen. Schließlich ist der schüchterne Beverly optisch nicht vom charismatischen Elliot zu unterscheiden, weswegen es den Frauen überhaupt nicht auffällt, dass sie ihr Bett heute Nacht mit einem anderen Mann teilen, als noch gestern. Ihre Effizienz stolpert aber, als Beverly sich mehr zur Schauspielerin Claire (Geneviève Bujold) hingezogen fühlt, als zu seinem Bruder.

Hand in Hand

Seit ihrer Kindheit verbringen die Zwillinge praktisch jede Sekunde miteinander. Sie sind gemeinsam herangewachsen, haben zu zweit geforscht und studiert und sind schlussendlich sogar den Bund der institutionellen Partnerschaft eingegangen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie länger als ein paar Stunden nicht in greifbarer Nähe des anderen operieren. Deswegen funktionieren sie als Team auch so unverschämt gut, denn nicht nur kennen sie einander so in- und auswendig wie nur irgend möglich, sondern ergänzen sich in ihren Stärken und Schwächen makellos.

Was Beverly an Ausdruck und Selbstbewusstsein fehlt, kaschiert Elliot mit Wortgewandtheit und einem charmanten Auftreten. Letzterer hat hingegen seine Schwierigkeiten im Umgang mit Empathie und fachkontextuellen Zusammenhängen, wo ersterer ihm immer mal wieder unter die Arme greift. Kurz gesagt: Beverly ist der Theoretiker, Elliot der Praktiker. Beispielsweise verschanzt sich die introvertierte Hälfte in der Wohnung und eignet sich Wissen an, während die extrovertierte Hälfte bei Champagner und Publikum eine Dankesrede aufgrund ihrer Auszeichnungen schwingt.

Das Drehbuch nimmt sich viel Zeit zur Inszenierung der eineiigen Protagonisten und ihrer Beziehung. David Cronenberg lässt die beiden in herzlich-ehrlichen Dialogen mit ihren Macken und Neckereien brüderlich ringen, in erster Linie zelebriert er aber ihre familiäre Harmonie durch ihre angsteinflößende Funktionalität. Logischerweise ist ihre Motivation, ohne das Wissen der jeweiligen Sexualpartnerinnen wie beim Sport abzuklatschen und den anderen in den Käfig zu schicken, total amoralisch. Sympathisch müssen die Zwillinge einem nicht sein; man soll schlichtweg staunen, wie gekonnt sie von ihren gegenseitigen Kompetenzen profitieren und Ergebnisse erzielen.

Adaptieren ist eine Gabe, derer sie sich nie wirklich annehmen mussten. Immerhin ist der eine immer da, wenn er vom anderen gebraucht wird. Doch dann tritt Claire in das Leben der beiden und alles ändert sich. Beverly findet sie nicht nur oberflächlich attraktiv, sondern verliebt sich in sie. Plötzlich steht er sozialen Herausforderungen gegenüber und kann den erfahrenen Herzensbrecher nicht um Rat fragen – oder will er es auch gar nicht mehr? Für ihn ebnet Claire den Pfad zur Selbständigkeit, während sein Bruder in ihr eine Bedrohung für die Karriere der beiden sieht. Dass er und sein Bruder mit kurzlebigen Romanzen jonglieren, könnte in publiker Kenntnis große Schäden anrichten. Aber ist das wirklich alles, was ihn stört?

Geteiltes Leid multipliziert sich

Natürlich ist die Geheimhaltung ihrer Taktik in einer tatsächlichen Liebesbeziehung unmöglich, weshalb die Fassade des Trickbetrugs schnell auffliegt. Claire zeigt sich gelinde ausgedrückt wenig begeistert, geigt den Zwillingen von Angesicht zu Angesichtern ihre Meinung und wendet sich ab. Doch Elliots eigentliche Befürchtung bewahrheitet sich damit, dass der Verliebte diesen Konflikt nicht verkraftet und einen mentalen Zusammenbruch erleidet. Sogar als Claire sich wieder zu ihm wendet, scheint er psychisch instabil und kognitiv unzurechnungsfähig.

Wieder finden die Brüder sich in ihrer Ausgangsposition, doch ein entscheidender Faktor ist anders: Sie haben einander, der eine ist in Gedanken aber bei einer anderen Person. Die wechselseitige Dependenz wird aufgebrochen und auf verstörende Weise in obsessive Verhaltensmuster abgewandelt. Während Beverly anonyme Anrufe in Claires Hotel hinterlässt, ist Elliot nahezu besessen von der Annahme, er müsse um jeden Preis mit seinem Bruder „synchronisieren“.

Übernatürlich sind die Auswirkungen, welche der Prozess der Abkapselung auf die zentralen Charaktere ausübt. Verängstigt vom besitzergreifenden und dominanten Wesen seines gebürtigen Weggefährten, versteckt sich Beverly vor selbigem und driftet bei seiner schwermütigen Romanze in unkontrollierbaren Drogenkonsum ab. In einem Gespräch behauptet er, dass seine Probleme nicht die Probleme Elliots seien und er einfach ohne ihn weitermachen könnte. Dieser gewinnt einen Großteil seiner Lebensqualität jedoch aus der Verlässlichkeit, dass sein Bruder ihn braucht und er seinen Bruder.

Anstatt progressiv an der Genesung des Fallenden zu arbeiten, bevorzugt der Fänger es, sich ebenfalls fallen zu lassen – aus Asynchronität wird wieder Gleichheit. David Cronenberg schafft keinen Horrorfilm im herkömmlichen Sinne, sondern verwendet den bodenständigen Ansatz seines Grusels zur thematischen Ausarbeitung einer psychologischen Tragödie. Die Unzertrennlichen wird von einem treffenden Titel repräsentiert, denn er zeichnet eine düstere Allegorie auf emotionale Abhängigkeit, die niemals ausgefüllt werden kann.

Der obligatorische Body-Horror Cronenbergs ist rar gesät, verfehlt aber keinesfalls seinen Effekt und die sterile Kamera eleviert eine sinistre Atmosphäre. Unter den Filmen des Kultregisseures ist dieser abermals gemächlich und deswegen an eine gewisse Geduld gebunden, nichtsdestoweniger aber einer seiner erzählerisch versiertesten und exakt dadurch mitunter der unheimlichste. Was geschieht, wenn der eine nicht ohne den anderen leben kann, der andere aber ohne den einen leben möchte? Dieses Werk interpretiert die Frage äußerst pessimistisch, denn zwei Herzen schlagen arrhythmisch und verkommen zu ein und derselben gebrochenen Seele.

DIE UNZERTRENNLICHEN IST AKTUELL (STAND: 07. MAI 2024) BEI MUBI VERFÜGBAR

8.0
Punkte